Die blista in der NS-Zeit
„Keine Insel der Glückseligkeit“ - Artikel aus der Oberhessischen Presse vom 20. Mai 2016
Forscher: Blindenstudienanstalt war Teil der NS-Realität · Nur 20 Prozent der Belegschaft in der NSDAP
Auf die Spuren der Marburger Blindenstudienanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus hat sich der Marburger Sozialwissenschaftler Dr. Wolfgang Form begeben.
Von Manfred Hitzeroth. Marburg. Die Marburger Blindenstudienanstalt sei in der Zeit zwischen 1933 und 1945 keine Insel der Glückseligkeit gewesen, zieht Dr. Wolfgang Form ein erstes Fazit seiner Nachforschungen, die er im Auftrag der Blindenstudienanstalt aus Anlass der 100-Jahrfeier betrieben hat. Denn auch diese 1916 gegründete deutschlandweit einzigartige Bildungseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte sei immer auch ein Teil der NS-Realität gewesen, erläutert der Wissenschaftler. Dies verbinde die Blista mit zahlreichen weiteren Institutionen, die in der NS-Zeit nicht aufgelöst oder verboten worden seien.
Dennoch müsse man differenzieren: Eine solche Einrichtung könne sich entweder eng in die Strukturen des Nationalsozialismus eingebunden oder eher auf die Vorgaben durch das Regime reagiert haben. Im Falle der Blindenstudienanstalt geht der Marburger Sozialwissenschaftler eher davon aus, dass die Verantwortlichen vermutlich auf die gesellschaftlichen Umstände reagiert hätten. Das bedeutet aber Forms Ansicht nach nicht, dass nicht auch NS-spezifische Ideen ebenfalls in der Blista vorhanden gewesen seien. Immerhin: Nur 20 Prozent der Beschäftigten waren Mitglieder der NSDAP. Das bedeute im Umkehrschluss, dass um die 80 Prozent der Angestellten, Arbeiter und Verwaltungsmitarbeiter es nicht für notwendig befunden hätten, in die Hitler-Partei einzutreten.
Zum Vergleich: Die Quote der NS-Parteimitglieder lag bei Juristen um ein Vielfaches höher, erläutert Form. Doch es habe auch einige Verstrickungen in das NS-System gegeben. So durften 1933 auf Druck des zuständigen Ministeriums aus Berlin keine erbkranken Mitarbeiter mehr eingestellt werden. Das Kapitel „Erbgesundheit“ war für die Blindenstudienanstalt eine Art Gradmesser. „Es gab die Nazi-Doktrin, dass gewisse Erscheinungen von Blindheit als erblich bedingt zu bezeichnen waren“, erläutert Form. Aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses seien mindestens zwei Blista-Mitarbeiter zwangssterilisiert worden. Zudem mussten Schüler vor ihrer Aufnahme in die Schule der Blista nachweisen, dass sie nicht „erbkrank“ oder bereits sterilisiert waren. Es wurden mindestens zwei Schüler der Blista, die 1934/35 an der Schule waren, in Marburg zwangssterilisiert.
Auch der Schulalltag – damals gab es mit insgesamt bis zu 30 Schülern allerdings deutlich weniger Schüler als heute – habe sich entsprechend der NS-Vorgaben geändert. So hätten sich politisch einschlägige Aufgabenstellungen in den Abiturprüfungen gefunden: Beispielsweise sollten in der Mathematik Kurvenberechnungen für einen bestimmten Bombentyp unternommen werden. Und in der Bibliothek wurden auch regimekonforme Lehrmittel eingestellt, berichtet Form. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ zählte zu den NS-Büchern, die im Verlag der Blista in der Nazi-Zeit in Blindenschrift gedruckt wurden. „Gedruckt wurde ‚Mein Kampf‘ in einer ersten Auflage von 500 Exemplaren als Propaganda-Instrument“, macht Wolfgang Form klar.
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs brachte für die Blinden-Bildungseinrichtung, die ursprünglich zur Weiterbildung der Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg gegründet worden war, erneute Änderungen. So galt die Deutsche Blindenstudienanstalt unter anderem deswegen als kriegswichtige Einrichtung, weil sie in Marburg in der Liebigstraße ein Reserve-Lazarett für Menschen aufbaute, die im neuerlichen Krieg durch Kopfverletzungen erblindet waren. Wie in anderen Behörden oder Firmen der Stadt Marburg waren auch an der Blindenstudienanstalt, und zwar in den Sparten Technik und Versorgung, mehr als 20 Zwangsarbeiter aus Frankreich und Italien als billige Arbeitskräfte beschäftigt.
Jüdischer Blista-Gründer musste Vorstand verlassen
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte Alfred Bielschowsky einen schweren Stand.
Mit dem Machtantritt des NS-Regimes gab es auch in den Leitungsgremien der Blindenstudienanstalt Veränderungen. Besonders augenfällig waren die personellen Einschnitte im Blista-Vorstand, die schon relativ bald nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Machtergreifung der Nationalsozialisten erfolgten, am Beispiel von Alfred Bielschowsky. „Er war im Jahr 1916 der eigentliche Gründer und Vater der Blindenstudienanstalt“, erläutert der Sozialwissenschaftler Dr. Wolfgang Form. Im Gründungsjahr war er Professor an der Augenklinik der Marburger Universität, wo er bis zu seinem Weggang im Jahr 1923 nach Breslau wirkte. „Er war europaweit eine Kapazität in Sachen Schiel-Erkrankungen“, erläutert Form.
Noch knapp ein Jahrzehnt nach seinem Weggang nach Breslau spielte Bielschowsky eine wichtige Rolle im Vorstand der Blista. Bis zum Oktober 1932 war er zweiter stellvertretender Vorsitzender.
Doch dann wurde Bielschowsky wohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus der Blista hinausgedrängt. Zwar wurde er im Jahr 1933 noch zu den Vereinssitzungen eingeladen, doch ein Jahr später taucht sein Name in den Akten über die Sitzung dort nicht mehr auf. Und im September 1934 musste Bielschowsky nach antisemitischen Protesten von Studenten Breslau verlassen und emigrierte in die USA, wo er 1940 im Alter von 49 Jahren starb. Bereits bei der 20-Jahr-Feier im Jahr 1936 sei Bielschowskys Rolle bei der Gründung der Blindenstudienanstalt verschwiegen worden, erläutert Form. Dass der Name des ehemaligen Blista-Gründers dann jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sei, sei auch eine Nachwirkung der NS-Zeit gewesen. Dieses „permanente Vergessen“ habe aber auch damit zu tun gehabt, dass Bielschowsky nur die Anfangsjahre der Bildungseinrichtung sichtbar geprägt habe und dann durch seinen Weggang aus Marburg aus dem Blickfeld geraten sei.
Bis heute ist vorwiegend der Name von Carl Strehl mit der Geschichte der Blindenstudienanstalt verbunden. Der bei einem Chemieunfall erblindete Volkswirtschaftsstudent Strehl war zusammen mit Bielschowsky 1916 einer der Mitgründer der Blista und leitete diese dann ab 1927. Nicht nur in der NS-Zeit, sondern auch noch bis 1965 war Carl Strehl als Direktor das Gesicht der Blindenstudienanstalt und bestimmte so fast 40 Jahre die Geschicke der Blista. Die Schule der Blista heißt nach ihm Carl-Strehl-Schule.
Strehl war Freimaurer und trat nicht in die NSDAP ein. Noch nicht aufgearbeitet ist nach Darstellung von Form die Frage, wieso Strehl im Jahr 1935 kurz vor dem Rausschmiss gestanden sei. Damals habe es ein Schreiben aus dem Reichsministerium für Bildung in Berlin gegeben, wonach die Blindenstudienanstalt nicht nach den Vorgaben des NS-Regimes gearbeitet habe. Diesem Druck habe Strehl dann jedoch standgehalten. Im Verwaltungsbericht des Jahres 1935 habe der Blista-Vorstand klargestellt, dass Forderungen nach einer Vernachlässigung der Weiterbildung von Blinden nicht akzeptabel seien, erläutert Form. Probleme wegen möglicher Erbkrankheiten seien bei der Klientel der Blindenstudienanstalt auch nur in Ausnahmefällen zu erwarten. Zudem habe er darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung von Blinden oft zu falschen Einschätzungen komme. Jedoch habe Strehl auch gewisse Zugeständnisse gemacht. So habe er für die Umsetzung der „sozialhygienischen Vorgaben“ des NS-Regimes plädiert.
Strehl agierte allerdings auch nicht im luftleeren Raum. Denn als Ersatz für den Marburger Oberbürgermeister Johannes Müller kam im Jahr 1933 ein Nationalsozialist in den Vorstand der Blindenstudienanstalt: der Marburger Professor Wilhelm Pfannenstiel. Das Spezialgebiet des Mediziners war die „Rassen-und Fortpflanzungshygiene“. Ab 1940 war er auch in der Inspektion von Konzentrationslagern eingesetzt. Nach 1945 musste sich auch Carl Strehl den Entnazifizierungsverfahren der amerikanischen Besatzungsmacht stellen. Er wurde als nicht belastet eingestuft und durfte dementsprechend auch als Blista-Direktor weiterarbeiten.
Nachdruck aus „Oberhessischer Presse“ mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Zur Person: Dr. Wolfgang Form (57) studierte von 1981 bis 1986 Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Öffentliches Recht an der Philipps-Universität. Von 1987 bis 1997 war er wissenschaftlicher Angestellter bei der Stadt Stadtallendorf, der Uni Mainz und dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Seit Oktober 1997 ist er Projektmitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften bei mehreren Drittmittelprojekten zur NS-Justiz in Deutschland und Österreich. Zudem ist er Mitgründer und Koordinator des Forschungs- und Dokumentationszentrums für Kriegsverbrecherprozesse an der Uni Marburg. Form war Kurator der Wanderausstellung „Verstrickung der Justiz in das NS-System“. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der deutsche Faschismus und die Entwicklung des Völkerstrafrechts.