Vom Schlag in die weite Welt
Meine Zeit in der MJG Gutenbergstraße
von Giuliano Vecchione
Die ersten beiden Jahre
Als 2015 der Schulwechsel anstand, entschied ich mich für die blista. Ich bewohnte nach meiner Einschulung zunächst eine Wohngruppe (WG) am Schlag, die seinerzeit wegen hoher Anmeldezahlen für die fünfte Klasse eröffnet wurde. Die ersten Jahre waren turbulent. Ich war ein wilder, wissbegieriger Junge, was sich beim anstehenden Umzug in die Minderjährigenwohngruppe (MJG) in der Gutenbergstraße etwas änderte. Wir schrieben das Jahr 2017 und die Umzüge der Schüler*innen, die nun von der sechsten in die siebte Klasse versetzt wurden, standen konzeptgemäß an. Als ich erfuhr, dass ich von meinem geländenahen Plätzchen in die Südstadt verlegt werden sollte, traf mich der Schlag. Ich äußerte meine Bedenken, beteuerte, dass ich nicht weg wolle, und ging sogar so weit, den zuständigen Internatsbereichsleiter zu konsultieren, um ihn zu fragen, was genau er sich eigentlich bei dieser Entscheidung dachte? Denn eigentlich wollte ich in dieselbe MJG ziehen, in die ein guter Freund und damaliger Mitbewohner zog. Im Nachhinein kann ich sagen, dass der Umzug in die Stadt das Beste war, was mir hätte passieren können.
Umzug ins Neuland MJG
Nach den Sommerferien musste ich mich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen. Nennenswerte Veränderungen waren ältere Mitbewohner*innen, pädagogische Mitarbeiter*innen, die hauptsächlich allein im Dienst waren und auch die neue Umgebung voller Geschäfte erwies sich als absolutes Neuland für mich, wohingegen ein mir über die Jahre in Köln angewachsener Instinkt sagte, dass das hier genau richtig sei. Durch die Universitätsstraße mit all ihren Centern und Läden zu laufen, fühlte sich ein bisschen nach Heimat an. Dieses Gedränge von Menschen, die Gerüche aus sämtlichen Geschäften und nicht zu vergessen der Verkehr aus der 50er-Zone. Das Einzige was fehlte war der Geruch von Bahnstationen, deren Duft nach Öl, Gestein und gelegentlich auch Urin einem wie ein Windzug in die Nase kriecht.
Ich begann sofort mit dem Mobilitätstraining, damit ich nicht nur die nötige Ausgangsempfehlung für den Schulweg, sondern auch jene Örtlichkeiten selbstständig besuchen durfte. Es war im Hinblick auf das Mobilitätstraining sehr praktisch, dass man, wenn man den Schulweg einübt, zwangsläufig an so manchen Eingängen von Läden vorbeiläuft. Je nach Rehafachkraft darf man dort dann auch schon hin, so wie in meinem Fall. Besonders gerne hielt ich mich neben dem Ahrens auch in der 2019 eröffneten Mall (ehemals Allianzhaus) auf, obwohl sie den Ruf hatte, wegen der kahlen weißen Wände ziemlich einfallslos und hässlich gestaltet zu sein.
Selbstständig werden
Ich war nach einigen Jahren wieder der erste und einzige blinde Schüler, was mich zu Anfang zwar etwas störte, doch gegen Ende habe ich es zu schätzen gewusst. Zuletzt waren es dann mit mir drei. Allein unter sieben weiteren sehbehinderten Mitbewohner*innen plus mindestens einem/einer pädagogischen Mitarbeiter*in zu sein, die alle etwas sehen können, fühlt sich deutlich anders an. Doch genau die Tatsache des „Alleinseins" verhalf mir, nach dem ich etwas Infrastruktur für mich schaffen musste, zu einem sehr selbstständigen Schüler zu werden. Ich möchte klar betonen, dass ich mich damit nicht selbst, sondern vor allem die geleistete Arbeit der damaligen zuständigen pädagogischen Mitarbeiter*innen positiv hervorheben möchte. Der eigene Wille zählt natürlich auch dazu. Der wurde davon angefacht, dass ich genauso mobil und selbstständig wie alle anderen sein wollte.
Diskussionen, die Augen öffnen
Um ein paar Beispiele besagter Arbeit zu benennen: Bereits in der ersten Schulwoche nahm mich die gute Tanja bei der Hand, um das Abendessen vorzubereiten. Sie zeigte mir, wie man Zwiebeln, Tomaten und Mozzarella schneidet. Vom Tischdecken blieb ich auch nicht verschont. Darüber hinaus kochten wir häufig gemeinsam oder hatten auch eine kleine Auseinandersetzung im Hinblick auf meine Essenstechnik während eines Ausfluges an den Edersee, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Denn eben diese Diskussion öffnete mir im wahrsten Sinne des Wortes die Augen!
Mit Barbara hatte ich die sogenannten „Projekte“, in deren Rahmen immer etwas zu tun war. Von privaten Erledigungen, über den Großeinkauf oder der blindenspezifischen Adaption von Spielen war da so ziemlich alles Erdenkliche dabei. Das hier alles aufzuführen, würde den Rahmen dieses Artikels deutlich sprengen.
Last, but not least, denke ich da an unsere Karolin, mit der ich ebenfalls viel Zeit verbrachte. Wir lachten viel, führten in jedem ihrer Dienste während des Rituals des Kaffeetrinkens gute Gespräche. Das Wichtigste, sie opferte sich damals, mit zwei weiteren Mitbewohnern und meiner Wenigkeit, um zum in Marburg ansässigen Autohändler von Peugeot zu fahren. Es regnete in Strömen! Das werde ich ihr nie vergessen!
Lächeln im Gesicht
Sicherlich gab es auch eine(n) vierte(n) Mitarbeiter*in, doch darüber kann ich nicht allzu viel erzählen, weil diese Stelle ständig neu besetzt wurde. Die zu rufenden Namen gingen von Axel, über Alina, Laura, Meike, Anja bis zum zuletzt eingestellten Oggie. Doch auch all diese Leute leisteten ihren Teil an meiner Entwicklung. Für die Arbeit des Teams passt kein besserer Vergleich, als ein Sechszylinder-Diesel. Er ist robust, hält Vielem stand, und wenn doch mal ein Zylinder ausfällt, wird improvisiert. In der Autoindustrie spricht man da heutzutage von hybrider Technologie. Uns Schüler*innen versuchte man immer, alles zu ermöglichen. Während die einen WGs Dienst nach Vorschrift machten, arbeiteten wir individuell. Genauso vertraten wir es nach außen, bis uns manchmal die konzeptionelle Realität einholte und, um beim Auto zu bleiben, der aktive Spur-halte-Assistent eingriff, um den Wagen wieder entlang der Fahrbahnmarkierung auf Kurs zu bringen. Fachlich gesehen kann ich es nur so beschreiben, dass jedes Mitglied dieses Teams etwas anders dachte. Während sich die eine am Konzept orientierte, dachte die andere individuell. Genau die Mischung war es, die unsere WG ehemals neben Poitiers-Str. zu der beliebtesten MJG an der blista machte. Es gab zwar noch die Fraktion der Weinberg-Bergsteigerliebhaber, aber wer fragt die schon? Regeln und Vorschriften gab es bei uns nur da, wo sie auch wirklich gebraucht wurden. Das soll nicht heißen, dass es bei uns drunter und drüber ging. Je nach Situation herrschten bei uns genauso Zucht und Ordnung, wie anderswo.
Wenn ich an diese vier Jahre denke, bekomme ich ein Lächeln ins Gesicht. Aber wie heißt es? Man muss immer dann gehen, wenn's am schönsten ist!
Wiedersehen
Nun habe ich den Berufsweg eingeschlagen. Ich bin wieder nach Köln zurückgekehrt, um dort eine Ausbildung zum Bankkaufmann zu absolvieren. Der Wunsch des Abiturs ließ im Laufe der Jahre nach. Ich war eher am Leben außerhalb der blista interessiert. Im Nachhinein kann ich sagen, nachdem nun drei Monate vergangen sind, es ist deutlich entspannter als im Job. Eines möchte ich jedoch noch loswerden: Während ich mich früher auf die Heimfahrtwochenenden freute, so freue ich mich heute darüber, wenn ich mal für ein paar Tage nach Marburg fahren, Freunde, Bekannte wiedertreffen und etwas vom Alltag entspannen kann. In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für diese tolle Zeit und sage: „Auf WIEDERSEHEN!“
PS: Die angeführten Beispiele waren wenige von unendlich vielen. Ich könnte stundenlang über sämtliche Highlights referieren, doch dann wären etliche Ausgaben der blista-News notwendig, um all das Schöne unterzubringen.