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Heute: Der Hilfebedarfsbogen
Winfried Thiessen *| Es ist manchmal wirklich zum Verzweifeln. Pass auf, du kennst doch sicher die Weihnachtsgeschichte: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser August ausging, dass alle Welt geschätzt würde … und so weiter und so fort, ist ja bekannt – das Ende. Ist gefühlt ewig lang her, aber du siehst ja selbst, einen gewissen Hang zur Bürokratie gab es schon vor 2.000 Jahren. Die Hilfebedarfsbögen, die sich nun jedes Jahr aufs Neue auf dem Schreibtisch meines guten Bekannten, dem Herrn W, stapeln, mit denen hat Kaiser August allerdings nichts zu schaffen, jedenfalls soweit ich informiert bin.
Natürlich geht es immer um das liebe Geld, um was denn sonst? Steuern damals, Kosten„vermeidung“, beim Hilfebedarf, heute. Auf Heller und Pfennig bis zu zwei Stellen hinterm Komma will es die Bürokratie genau wissen, meist schon im Vorfeld – da brauchst du als Pädagoge schon gewisse seherische Fähigkeiten. Gut, jetzt könntest du sagen, so ein sehgeschädigter Pubertärer, den kannst du jetzt nicht sich selbst überlassen, der braucht stets den pädagogischen Hauch der Zivilisation im Nacken, Mundgeruch hin oder her – da handeln wir einfach eine konsensfähige Pauschale für alle aus, so was wie eine Erziehungsflatrate und fertig, so einfach könnte es gehen. Schon hätte Herr W weniger Bürokratie auf seinem Schreibtisch – aber da kannst du sehen, wie leicht man auf völlig abwegige Gedanken kommen kann.
Jetzt denkst du vielleicht: So what – wo ist denn da eigentlich das Problem? Kreuzchen hier, Kreuzchen da und etwas Text dazu, zack und fertig … Aber, der Hilfebedarfsfragebogen ist das eine und der Wohngruppenalltag etwas völlig anderes. Deshalb ist mein guter Bekannter, der Herr W, ja immer so verzweifelt, wenn er die Bürokratie vor sich liegen hat. Muss ich dir jetzt wohl erst mal näher erklären, das ganze Dilemma. Allerdings musst du dafür schon so eine gewisse Abstraktionsfähigkeit besitzen.
Also, da findest du zum Beispiel unter dem Überbegriff: Emotionale und Psychische Entwicklung einen Unterpunkt der heißt Bewältigung von Angst, Unruhe, Spannung. Da hat mein Bekannter aus einem Reflex heraus erstmal ein kann auf der einen und keine Hilfe erforderlich/gewünscht auf der anderen Seite angekreuzt – das ist wie doppelte Buchführung, wenn du verstehst?! Es war gerade Wochenende gewesen und sein Zögling war völlig relaxed, überhaupt war er das die ganze Zeit schon – auch die ersten Wochen des neuen Schuljahres in der Wohngruppe: ein wahrer Wonneproppen, aktiv immer unterwegs. Jetzt war es aber so, dass der Wonneproppen am Mittwochmorgen – die Kreuze waren gerade gemacht – nicht zum Frühstück erschien. Mein guter Bekannter, der Herr W, ist also kurz vor halb acht runter in die untere Etage und an die Zimmertür geklopft – nix. Noch mal geklopft – wieder nix. Er also vorsichtig die Tür aufgemacht, um den Langschläfer zu wecken. Aber jetzt, der wollte sich gar nicht wecken lassen, sondern einfach weiterschlafen. Nun entstand in dem Zimmer schon so eine gewisse Unruhe und Spannung bei seinem Schützling, weil Herr W wollte ja wissen, was los ist mit ihm. Aber er, also der Wonneproppen, wollte nur, dass Herr W sich einfach schleicht – und die Matheklausur würde er dann irgendwann nachschreiben, sagte er zu ihm. Das Mit-dem-zum-Arzt-Gehen und dem Attest für die Schule wollte er gar nicht hören.
Und jetzt hatte Herr W schon das nächste Problem: unter dem Überbegriff: Individuelle Basisversorgung gab es einen Unterpunkt Aufstehen/zu Bett gehen, da hatte er auch ein kann und keine Hilfe erforderlich/ gewünscht angekreuzt – aber jetzt stand er da, das Kreuz bei keine Hilfe erwünscht stimmte ja, sein Pubertärer wünschte sich ja keine Hilfe. Aber alleine aus dem Bett kam er auch nicht. Du verstehst das Problem? Was hätte mein guter Bekannter, der Herr W, jetzt denn ankreuzen sollen? Kann mit Schwierigkeiten auf der einen Seite hätte zur Folge – Achtung, an die doppelte Buchführung denken! - gleichzeitig mindestens: Beratung/Assistenz/Hilfestellung auf der anderen Seite. Aber er, also mein guter Bekannter, sollte sich ja schleichen, also Beratung vor Ort war ja gerade nicht erwünscht - und wie hätte er Hilfestellung oder Assistenz ausgestalten sollen? Hätte er ihn vielleicht aus dem Bett zerren und ihm beim Anziehen assistieren sollen – so jetzt schön die Ärmchen hoch und den Pullover drüber? Ja, dann hätte er doch für noch mehr Unruhe und Spannung gesorgt, die es dann auf beiden Seiten zu bewältigen gälte. Aber, wenn er ihn einfach liegen lassen würde, dachte jetzt mein guter Bekannter, dann wäre die Unruhe und Spannung wahrscheinlich schnell wieder verflogen, also würde dann auch kein so großer Hilfebedarf in diesem Bereich entstehen, denn den provozierte er im Moment ja im Grunde gerade selber, also mein guter Bekannter, der Herr W mit seinem robusten Auftreten. Du siehst, es ist zum Verzweifeln, denn da war ja jetzt auch noch der Überbegriff: Gestaltung sozialer Beziehungen: Unterpunkt: Im unmittelbaren Nahbereich. Mit dem Nahbereich, da war ja auch mein guter Bekannter mit gemeint. Jetzt mal ganz ehrlich. Wie würdest du deine soziale Beziehung gestalten, wenn du im Bett liegst und einfach nur in Ruhe gelassen werden möchtest und dich dann jemand, den du gerade mal seit fünf Wochen kennst, sich einfach neben dein Bett stellt und ununterbrochen auf dich einredet – und sich, trotz Aufforderung, einfach nicht schleichen will?! Jetzt musste mein guter Bekannter, der Herr W aus dem kann ein kann mit Schwierigkeiten machen, obwohl sein Schützling bisher ja ganz gut klar gekommen ist mit ihm, also mit meinem Bekannten, dem Herrn W – und dass kann nicht jeder von sich behaupten. Aber nun hat mein guter Bekannter im Eifer des Gefechts nicht locker gelassen. Und so ist es dann an jenem Morgen zu gewissen Spannungen gekommen, die für einige Unruhe sorgten. Da hat er ohne böse Absicht den Hilfebedarf in nur wenigen Minuten ordentlich in die Höhe getrieben, weil er hätte ja auch einfach mal die Klappe halten und seinen Schützling liegen lassen können – hat er dann ja auch, weil – seine Bemühungen waren völlig umsonst.
Jetzt aufgepasst, als mein guter Bekannter ihn am frühen Nachmittag desselben Tages dann versucht hat zu wecken, da wurde er von ihm völlig verschlafen und verdattert gefragt: „Was ist denn loos? – Ohhh, wie spät ist es eigentlich?!“ Und da war mein guter Bekannter schon wieder in einem Dilemma, weil er hatte bei dem Unterpunkt: Zeitliche Orientierung ein kann angekreuzt und keine Hilfe erforderlich/erwünscht, weil bisher hat ja alles geklappt – aber jetzt hatte der junge Mann anscheinend plötzlich jedes Zeitgefühl verloren, also musste aus dem kann ein kann mit Schwierigkeiten und ein Beratung/Assistenz/Hilfestellung werden. Da ist es ja schon gut, dass man am Computer nicht mehr mit Radiergummi und Tippex arbeitet – weil, dass wäre ein ganz schönes Geschmiere geworden. Jetzt denkst du vielleicht, dass das schon das Ende der Geschichte ist – siehst du, so kann man sich täuschen! Wenig später, mein guter Bekannter, der Herr W musste dringend seinen Kaffee loswerden, da sah er vor der Toilettenschüssel eine kleine Pfütze. Du musst verstehen, dass ist nicht nur ein hygienisches Ärgernis, denn jetzt musste er schon wieder eine Änderung am Hilfebedarfsbogen vornehmen, hatte er doch unter dem Unterpunkt: Persönliche Hygiene/ Toilettenbenutzung ein kann und keine Hilfe erforderlich/gewünscht angekreuzt, daraus müsste aber jetzt ein kann mit Schwierigkeiten werden, – aber mal ganz ehrlich: wer wünscht sich schon Beratung/Assistenz oder gar Hilfestellung beim Wasserlassen? Und wie hat man sich in so einem Fall die Kategorie C Anleitung/teilweise stellvertretende Ausführung vorzustellen, die ja durchaus auch noch eine Möglichkeit zum Kreuzchenmachen darstellte? Und mein guter Bekannter, der Herr W, wollte ja auch gar nicht beratend oder sonstwie tätig werden. Er wollte seinem Zögling nur klarmachen, dass man sich mit dem kleinen Sehrest beim Pinkeln einfach zu setzen hat und nicht seinen Bedürfnissen stehend den freien Lauf lassen kann.
Aber nicht dass du denkst, dass es das jetzt schon alles gewesen wäre, weil egal was er dem jungen Mann jetzt erzählen würde, die Lache vor der Toilette würde sich nicht in Luft auflösen, jedenfalls nicht zeitnah. Jetzt musste mein guter Bekannter, der Herr W, überlegen, ob er die Pfütze für lau wegwischen sollte, Schwamm drüber, einfach Fünfe gerade sein lassen – oder ob er ein weiteres Hilfebedarf-Fässchen aufmachen sollte. Du siehst, wenn du erst einmal angefangen hast, da kann der Amtsschimmel schnell mit dir durchgehen – und wenn mein guter Bekannter dann das liest, was er dazu noch so geschrieben hat, dann denkt er manchmal nur noch: ohhhhaa … – und jetzt musst du dir vorstellen, die Eltern bekommen diesen Hilfebedarfbogen ja auch zu lesen. Also ich würde da auch Panik bekommen und denken: was hat da der Herr W in so wenigen Wochen aus meinem Sohn gemacht … nein, das ist nicht mein Sohn. Hilfe, wir sind Opfer eines Identitätsdiebstahl geworden. Und der Sprössling liest das und denkt: Aha? Das bin also ich?! Und da muss man leider sagen: bürokratisch gesehen – ja!
[pädagogischer Mitarbeiter im Internat]