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Heute: Theater, Theater
1. Akt: Blutige Nasen
Winfried Thiessen. Der Dezember hatte noch keine Fahrt aufgenommen. Weihnachten lag in weiter Ferne und der Himmel über dem Universitätsstädtchen Marburg war tief grau, grau wie der Teer der Straße, grau wie die Gedanken, die durch seinen Kopf schwirrten. Ein eisiger Ostwind sauste durch die Schluchten der Deutschhausstraße, wirbelte sein schütteres Haar durcheinander und ließ ihn frösteln. Die absolut beste Jahreszeit für eine Fortbildungsveranstaltung, tröstete sich Herr W. Das Thema klang auch ganz interessant: Anwalt unserer Schüler. Der Jurist Michael Richter vom Team „Rechte behinderter Menschen“ (rbm) würde heute über Sozialrechtsfragen und seinen beruflichen Alltag referieren.
Ganz gegen seine Gewohnheit kam Herr W wenige Minuten zu spät. Der Seminarraum war völlig überheizt. Informationen waberten durch den Raum, trafen auf seinen überhitzten Schädel, bettelten um Einlass, wollten seine grauen Gehirnzellen schwängern, doch diese wussten es zunächst noch zu verhüten. Nur langsam gelang es seinem Organismus, sich der in den Räumlichkeiten herrschenden Klimakatastrophe anzupassen. Die entfernte Stimme des blinden Juristen kam nun stetig näher und fand endlich ihren Weg in Herrn Ws neuronales Netzwerk: Da würden ihn Mütter anrufen und beklagen, dass ihr blinder Sohn Hilfsmittel für das Studium bräuchte, so Herr Richter, aber die Ämter würden sich einfach für nicht zuständig erklären und nicht zahlen wollen. Er würde dann auch schon mal von der Frau Mama wissen wollen, ob denn nicht der Sohn bei ihm anrufen könne, um seine Fragen zu stellen, schließlich sei er der beste Experte für seine Probleme. Herrn Ws Übersetzungsprogramm sprang sofort an: Gnädige Frau (Anrede), ihr Sohn ist 21 Jahre alt und will studieren (Zusammenfassung der Fakten), da kann es doch nicht sein, dass Sie für Ihren erwachsenen Sohnemann anrufen, das soll er doch mal lieber selber machen (Botschaft). Herr W war plötzlich hellwach, trug den Einwand vor, dass ja dieser erste Kontakt zum rbm ohne die Frau Mama vielleicht gar nicht stattgefunden hätte oder vielleicht viel zu spät, um noch rechtzeitig an die geeigneten Hilfsmittel zu kommen, und er fügte dann noch beiläufig hinzu, dass er die Rolle der Mama in seiner Wohngruppe auch des Öfteren einnehmen würde, wenn es zum Beispiel darum ging, einen Erstkontakt zu Behörden und so weiter herzustellen. Jetzt glauben Sie bitte nicht, dass Herr W dafür Applaus von seinen Kollegen und -innen erhalten hätte. Im Gegenteil. Nicken allerorts, als sein Richter ihm entgegnete, dass die jungen Leute eben auch mal auf die Nase fallen müssen, damit sie etwas lernen. Natürlich blieb zur fortgeschrittenen Stunde keine Zeit mehr, das Thema zu vertiefen. Weil in der Tiefe hätte der Richter dann die ganzen blutigen Nasen gefunden – denn Hilfe zur Selbsthilfe ist im Alltag manchmal ein ganz schönes Theater. Und wenn dann auf dem Bühnenboden so eine blutige Nase liegt? Wer muss dann helfen, den ganzen Schlamassel zu beseitigen? Richtig: Herr W – Erzieher im Internat.
2. Akt:Theater Theater, der Vorhang geht auf dann wird die Bühne zur Welt*
Der Vorhang öffnet sich. Die Bühne liegt noch im Dunkeln. Langsam taucht das Erzieherzimmer der Wohngruppe aus der Dunkelheit auf. Ein Bett, ein Sofa mit Beistelltisch, ein Sessel, ein Schreibtisch mit Drehstuhl, ein Regal. Herr W schlurft gestikulierend im Zimmer auf und ab, redet mit einer imaginären Person.
„Oh, nein! Der Punkt ist doch, dass du meine Unterstützungsenergie in 60% Ausbremsenergie und 35% Vermeidungsenergie umwandelst. 5% werden dann maximal von dir umgesetzt. Jetzt stell dir mal vor, du würdest 20% davon produktiv nutzen! Was könnten wir dann gemeinsam für dicke Bretter bohren! Manchmal frage ich mich doch ernsthaft, ob so etwas wie Weiterentwicklung in der Pubertät überhaupt möglich ist! - Stopp! Stopp! Nein! Keine allgemeinen Vorwürfe machen und überzogenen Erwartungen formulieren – du musst stets sachlich und konkret bleiben!
Also, du wählst die Rufnummer, Begrüßungsformel, dann sagst du deinen Namen, und dann kommt der Grund des Anrufs. Hallo! Guten Tag! Meine Name ist Punkt Punkt Punkt. Ich bin Schülerin der Carl-Strehl-Schule und rufe an, um zu fragen, ob es bei Ihnen in der Verwaltung möglich wäre, ein zweiwöchiges Schulpraktikum zu absolvieren. Und vergiss nicht, deine Sehbehinderung zu erwähnen, aber nicht: Hallo, hier ist Punkt Punkt Punkt, und ich bin blind. Du musst dir auch den Zeitraum des Praktikums merken und auf Fragen nach dem Warum-gerade-bei-uns vorbereitet sein. Und natürlich, deine Arbeitstechniken und deine Sehbehinderung solltest du erklären können. Habe ich was vergessen?
Gut, spätestens jetzt müsste ich mich auf den Einsatz der Vermeidungsenergie einstellen: Nein, nein! Du sollst nicht schon wieder diesen Mach-du-es-doch-für-mich-Gesichtsausdruck aufsetzen, das wirkt bei mir nicht! Jetzt müsste der Zeitpunkt erreicht sein, wo sie die Ausbremsenergie hochfahren wird: O.K., o.k.! Ich verstehe, du meinst also, dich will eh niemand haben. Ah, die wissen dort eh nichts mit dir anzufangen. Da sitzt du nur rum. Und wenn man blind ist, kann man später sowieso in diesem Bereich nichts machen. Mag alles irgendwie stimmen, aber das bringt uns im Moment nicht weiter. Es ist nur ein Praktikum, mal was Neues ausprobieren, mal was Anderes als Schule kennenlernen. Du hast noch über drei Jahre Zeit, dich zu orientieren, und heute fangen wir damit an. Im Moment geht es erstmal nur darum, Kontakt aufzunehmen, mehr nicht!
So, nun müsste der Punkt erreicht sein und die Vollbremsung durch die Kopplung von Vermeidung- und Ausbremsenergie einsetzen. Nein, wir rufen heute da an, nicht nächste Woche. Ja, du hast völlig recht, das Praktikum ist erst in fünf Monaten, aber bald sind Ferien, und schwubbs sind schon zwei von den fünf Monaten rum, und wenn sie dich nicht nehmen sollten, musst du ja auch noch nach einer Alternative suchen. – Gut, Predigt beendet!
Die vermeintliche Ursachenforschung kann nun beginnen: Also, wo liegt konkret dein Problem? Du telefonierst nicht gerne mit Fremden? Versteh´ ich nicht! Du siehst mich doch auch nicht oder den Busfahrer, wenn du mit ihm redest. Dein ganzes Leben ist doch irgendwie wie telefonieren, nur ohne Telefon. O.K. hör zu: in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit bringt das heute wahrscheinlich eh nix mehr. Die haben wahrscheinlich schon Büroschluss. Morgen starten wir einen neuen Versuch. – Oh, spar´ dir bitte diesen Wenn-du-mich-morgen-darauf-ansprichst-dann-dreh-ich-dir-den-Hals-um-Gesichtsausdruck. Nein, ich werde nicht dafür bezahlt, dort anzurufen, sondern um dein Händchen beim Telefonieren zu halten. Glaub mir, du wirst stolz auf dich sein, wenn du selber anrufst. Ja, ja, es sind Fremde. Du machst mich wahnsinnig! O.K., dieses eine Mal noch! Die nächste Adresse wirst du aber selber anrufen…, nein, ist o.k., du brauchst mir nicht die Füße zu küssen. Ich werd´ nicht noch mal weich! Nur dieses eine Mal noch. Gib mir den Hörer! Stopp! Nein, nein! Soweit darf es erst gar nicht kommen.“
Theater Theater, gehasst und geliebt Himmel und Hölle zugleich*
Herr W geht zur Tür des Betreuerzimmers, öffnet sie und ruft in den Flur: „Hannah, kommst du bitte mal zu mir!? Ich wollte mit dir noch mal den Ablauf des Telefonats besprechen – äh, was heißt, du hast schon einen Praktikumsplatz?! Ach, per e-mail, und der Chef hat dich dann angerufen? Seit wann … vorgestern, schon? Und das sagst du mir erst jetzt? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Proben ich in diesen Auftritt gesteckt habe? Ich meine natürlich Arbeit. Erst Theater, Theater, und jetzt kann ich die Vorstellung absagen. Herr W wendet sich dem Publikum zu, verneigt sich, und das Licht wird langsam schwächer. Das Betreuerzimmer liegt wieder im Dunkeln.
Vorhang
Alles ist nur Theater und ist doch auch Wirklichkeit.*
Epilog
Und jetzt hat man ja auch was von dem Blut übrig – da könnte man doch mal zum Roten Kreuz Blut spenden gehen – oder nachts Vampire füttern!
* Katja Ebstein, Fotos: Daniela Junge