Zeitenwende – vom Leben nach der blista
Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Deutschen Bank
Giuliano Vecchione | Schule, Schule - Schule?
Meine Schulkarriere an der blista startete im September 2015. Ich kam zur 5. Klasse nach Marburg und wohnte die ersten beiden Jahre "Am Schlag 3" in einer Eingangswohngruppe des Internats. 2017 zog ich dann in eine Minderjährigen- Wohngruppe (MJG) in der Gutenbergstraße und wohnte dort bis zum Ende meiner blista-Zeit im Sommer 2021. Wer rechnen kann, merkt jetzt ganz schnell, dass meine Schullaufbahn zu Beginn der Oberstufe endete. Doch der Reihe nach.
In meiner Zeit an der blista war ich bekannt für mein großes Interesse an Autos, später kam noch das Interesse an der Finanzwelt hinzu. Vielleicht etwas ungewöhnlich für einen blinden Schüler mit nur noch einer geringen Lichtwahrnehmung, die mir aber bei der Orientierung oft ganz nützlich ist. Nach meinem Umzug von der Eingangsstufe in die MJG in der Gutenbergstraße wollte ich unbedingt selbständiger werden. Die Lage der Gutenbergstraße war für mich ideal. Geschäfte, öffentlicher Nahverkehr - alles befand sich in guter Erreichbarkeit. Ich begann diese Vorteile zu nutzen und lernte eifrig im Mobilitätsunterricht alle notwendigen Wege. Ich ging alleine einkaufen und nahm sämtliche Angebote des LPF-Unterrichts wahr: Kochen, Bügeln, Waschen und, und, und. Ich nahm mir früh vor, einmal alleine zu leben.
Zeitweise engagierte ich mich im Internatsrat der blista. Meine Aufgabe bestand darin, an der sogenannten PBK-Sitzung zusammen mit den Internatsleiter* innen und den Delegierten der Bereichskonferenzen teilzunehmen. Gab es seitens der Internatsbewohner* innen Themen, habe ich diese in der Sitzung als Delegierter eingebracht. Ich nahm diese Aufgabe sehr ernst und gewöhnte mich schnell daran Hemden zu tragen - ein Faible von mir. Ich greife schon mal vor: heute bin ich manchmal ganz froh, wenn ich die formelle Arbeitskleidung der Bank freitagabends gegen Jeans und T-Shirt eintauschen darf. Jedenfalls saß ich in dieser Zeit regelmäßig in der PBK, protokollierte fleißig mit meinem Laptop mit und lauschte internen Zusammenhängen. Doch mit der Zeit kam bei mir immer mehr das Bedürfnis auf, meine erlangte Selbständigkeit und mein Wissen in der Praxis Anwendung finden zu lassen. Ich fühlte mich fit für die Arbeitswelt da draußen. Ich wollte den Sprung wagen, auch wenn ich mir eigentlich vorgenommen hatte, einmal Abitur zu machen, um mit dem Reifezeugnis in der Hand, wie die meisten blistaner*innen, studieren zu gehen. Ein Jurastudium hatte ich mir vorgestellt. Aber es zog mich irgendwie nach draußen. Ich spürte einen Drang in mir nach Neuem, Aufregenderem und Interessanterem.
So bewarb ich mich zum Entsetzen meiner Eltern und einige meiner Lehrer*innen in den Sommerferien des Jahres 2020 bei einigen Kreditinstituten für die Ausbildung zum Bankkaufmann. Dass so eine Ausbildung für mich kein Selbstläufer werden würde, war mir schon klar. Unterstützung erfuhr ich in dieser Zeit hauptsächlich durch die Betreuer*innen meiner Wohngruppe im Internat. Auch das RES stand mir mit seinen Beratungsangeboten zur Seite. Einer meiner Lehrer, der sich etwas in der Bankenbranche auskannte, meinte zu mir, dass ich mit meinem Anliegen, als blinder Schüler eine Ausbildung bei einer Bank zu machen, wohl eher chancenlos wäre. Sein Statement motivierte mich allerdings umso mehr, es zumindest einmal zu versuchen. Meine Neugierde, was alles so gehen würde, war geweckt. Ich musste es einfach probieren. Ich hatte ja nicht viel zu verlieren, denn ich konnte ja jederzeit zurück zur blista kommen, würde der Versuch, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, scheitern. Zu dieser Zeit kam ein weiterer Wink des Schicksals hinzu. Eine Lehrerin der Carl- Strehl-Schule war mit einer wichtigen Entscheidungsträgerin der Volksbank Mittelhessen befreundet, was mir dort zu einem freiwilligen Praktikum verhalf. So konnte ich in die Welt der Banken hinein schnuppern. Dafür bin ich meiner Lehrerin heute noch sehr dankbar!
Und los geht´s!
Ich bewarb mich bei insgesamt acht Kreditinstituten um eine Ausbildungsstelle zum Bankkaufmann, darunter waren Sparkassen, aber auch Privatbanken. Alle Bewerbungen bei den Banken laufen online. Formulare und Unterlagen müssen hochgeladen, zahlreiche Textfelder müssen ausgefüllt werden und schon hat man sich beworben. Mein größtes Problem war es, die online gestellten Einstellungstests erfolgreich zu absolvieren. Hier bestand die Aufgabe darin, kleinere Aufgaben in kurzer Zeit zu bearbeiten. Rechenaufgaben, Geschicklichkeit, Stressresistenz und Allgemeinbildung wurden hier abgefragt. Das Hauptproblem: die Zeit! Ehe ich mich auf der Website zurechtgefunden, die Schaltflächen mit meinem Screenreader erkundet, geschweige die Aufgabe überhaupt gelesen hatte, war die vorgegebene Zeit längst verstrichen. Deshalb habe 3/2024 44 ich die Personalabteilungen der Banken angerufen, sobald ich die Zugangsdaten via Mail erhalten hatte. Ich machte barrierefreie Lösungsvorschläge wie den, eine PDF-Datei zu generieren, in der ich dann die Aufgaben bearbeiten könnte, oder sagte, dass ich auch gerne in die Bank käme, um die Aufgaben dort ohne zeitliches Limit zu bearbeiten. Kurz: es galt dicke Barrierebretter zu bohren, die sich in fast allen Fällen als dann doch zu massiv erwiesen. Keiner wollte sich wirklich auf ein anderes Bewerbungsverfahren einlassen. Damit musste man auch nicht zugeben, dass man es sich nicht vorstellen konnte, einen blinden Schüler zum Bankkaufmann auszubilden. Klar war ich enttäuscht – auch von den Verantwortlichen in den Banken. Aber aufgeben wollte ich noch nicht.
Ein Lichblick
Ganz anders lief es dann mit dem Ausbilder bei der Deutschen Bank. Dieser hörte sich meine Schwierigkeiten mit der online- Bewerbung an, suchte mit mir gemeinsam nach Lösungen und fand diese auch. Ich merkte zum ersten Mal, dass da jemand wirklich bereit war, den Versuch zu wagen.
So kam es also, dass ich im September 2020 zu einem digitalen Bewerbungsgespräch eingeladen wurde, das via Skype stattfand. An diesem Termin nahmen zwei Personalverantwortliche des Bankhauses teil. Es ging über zwei Stunden. Meine Zusage erhielt ich schon am nächsten Tag.
Dann ging für mich das Organisieren los. Ich musste mich rechtzeitig um diverse Dinge kümmern, wie eine Arbeitsassistenz und deren Kostenübernahme, Mobilitätstraining für meine Heimatstadt Köln, die Kostenübernahme der Arbeitsplatzausstattung, eine Wohnung und vieles mehr.
Aller Anfang ist schwer
Im August 2021 war es dann endlich so weit. Ich begann meine Ausbildung in der Hauptstelle der Deutschen Bank in Köln, in der ich auch heute noch tätig bin. Mein Arbeitgeber stellte mir im Vorfeld u.a. Laptop und ein eigenes Mobiltelefon zur Verfügung. Nun hieß es, meinen Arbeitsplatz selbst einzurichten. Ich verbrachte anfangs viel Zeit damit, die Technik zum Laufen zu bekommen. Die Installation von JAWS und weiterer Software gestaltet sich in einer Bank nämlich nicht so einfach. Hier gelten hohe Sicherheitsstandards.
Mein Einstieg in die Ausbildung bei der Deutschen Bank wurde mir durch einen blinden Kollegen, der kurz vor meinem Einstand nach 40 Jahren Tätigkeit in Pension verabschiedet wurde, erleichtert. Dieser Kollege stand mir noch eine Zeitlang mit Rat und Tat zur Seite. Er nannte mir u.a. geeignete Ansprechpartner bei Problemen. Das half mir sowohl bei technischen, als auch bei persönlichen Fragen um einiges weiter.
Alles in allem wurde ich sehr herzlich von allen Kolleg*innen, Führungskräften und Verantwortlichen aufgenommen.
Barrieren lauerten überall. Meine Ausbildung zum Bankkaufmann gestaltete sich insbesondere im theoretischen Teil, der in der Berufsschule absolviert wird, nicht immer einfach. Die Schulbücher bekam ich Gott sei Dank über den kurzen Dienstweg im PDF-Format. Aber die Bearbeitung großer Tabellen voller Kennzahlen, Bilanzen, Jahresberichten, betriebswirtschaftlichen Auswertungen etc. brachten mich hier und da an meine Grenzen. Hinzu kam das rasante Tempo, in welchem es die Inhalte zu verstehen und anzuwenden galt.
Es gab Momente, in denen ich nah dran war, die Ausbildung abzubrechen, wären da nicht mein Ausbilder, die Berufsschullehrer* innen und die gut laufende praktische Ausbildung gewesen. Diese Aspekte verhalfen mir immer wieder, bis zum Ende durchzuhalten. Während meiner Ausbildung durchlief ich diverse Abteilungen. Neben dem klassischen Privatkundengeschäft umfasste dies die Beratung wertigerer Privatkunden und Geschäftskunden, sowie Beratungen für Baufinanzierungen.
Kurz vor der Ziellinie tauchte ein weiteres Hindernis auf: die Industrie und Handelskammer, vor der ich die Prüfungen abzulegen hatte. Insbesondere bei der Abschlussprüfung brauchte es lange Verhandlungen, ehe der Nachteilsausgleich in allen Punkten genehmigt wurde. Ich durfte die Prüfung mit einem Laptop schreiben, der mit Screenreader und Braillezeile ausgestattet war. Die Prüfung war im beschreibbaren Word-Format organisiert worden. Barrierefrei war diese leider nicht gänzlich, an dieser Stelle durfte ich dann meine beantragte fachkundige Assistenz unterstützend einsetzen. Im Nachhinein bin ich froh durchgehalten und die Ausbildung mit einer guten Note bestanden zu haben.
Am Ziel
Im Januar 2024 bekam ich dann die Belohnung für die gute, manchmal sehr anstrengende und mit vielen Hindernissen versehene Zeit. Ich bekam einen unbefristeten Vertrag und durfte einen guten Job im Bankhaus antreten. Ich bin heute noch am gleichen Standort tätig, in der Hauptstelle der Region Köln. Der Standort ist nur wenige Gehminuten vom Kölner Hauptbahnhof entfernt. Vor allem in der Ausbildung war das für mich sehr praktisch, weil alle wichtigen Abteilungen hier angesiedelt sind.
Fazit
Als blinder Mensch meinen (Traum-)Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, meine Idee Realität werden zu lassen, gestaltete sich anspruchsvoller als gedacht. Man braucht schon ein hohes Maß an Willensstärke, Enthusiasmus und Selbstständigkeit. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist das schon mal die halbe Miete. Darüber hinaus braucht es Arbeitgeber, die offen gegenüber den Herausforderungen sind, die mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einhergehen. Nicht zuletzt muss es Verantwortliche geben, die bereit sind, uns bei den anderen, manchmal auch längeren Wegen zu begleiten, und in manchen Dingen mal von der Norm und vom üblichen Standard abzuweichen. Je mehr blinde Menschen bereit und willens sind, diesen oft beschwerlichen Weg zu gehen, umso einfacher wird es für die kommenden Generationen von Schulabgänger* innen der blista.