Winnies Wunderbare Welt
Heute: Mensch ärgere dich nicht!
Von Winfried Thiessen
Motion – Bewegung
Die Sache mit dem Gehirn kam gleich zu Beginn auf den Tisch. Jetzt ist es ja so, dass das Gehirn sich im Laufe der Evolution immer weiterentwickelt hat. Am Anfang hatte der Mensch nicht mehr als ein Echsenhirn im Kopf gehabt. Neu Hinzukommendes wurde dann von der Evolution einfach immer oben draufgepackt - man kann es sich auch einfach machen. Du musst dir das ungefähr so vorstellen wie in einer Eisdiele. Das Hörnchen ist quasi der Hals und dann wird dort Eiskugel auf Eiskugel kräftig draufgedrückt. Das ist dann quasi so ein Eiskugelhirn im Waffelhörnchen. Also wusste der Mensch die längste Zeit seiner Existenz gar nicht, dass er mal ein Mensch werden würde, quasi evolutionäre Eiskrone. Aber Krone hin oder her, ganz tief unten in unserem Gehirn da sitzt ja nun immer noch diese Eidechse, durfte jetzt mein guter Bekannter, der Herr W, in der Fortbildung erfahren. Und so ein Echsenhirn kennt nur, ganz vereinfacht, Flucht oder Angriff. Ja oder nein. Denn wenn Gefahr drohte, dann durftest du, so als kleines Echschen, nicht lange überlegen oder gar noch anfangen zu philosophieren. Es gab sowieso nur zwei Möglichkeiten für dich: angreifen oder abhauen. Und jetzt, egal ob gut oder schlecht, so funktioniert der Mensch in seinem tiefsten Inneren immer noch. Und da kannst du dir vielleicht denken, dass das im modernen Alltag nicht immer förderlich ist, so ein Echsenhirn – aber damit du dir das etwas besser vorstellen kannst, gebe ich dir mal ein Beispiel:
Da sitzt du im Zug, wie jetzt gerade mein guter Bekannter, der Herr W, auf dem Weg zu seinen seheingeschränkten Pubertären. Das Abteil ist so gut wie leer. Ruhe, quasi Sanatorium. Deine Eidechse döst so vor sich hin. Du blätterst in der Zeitung. Dann rollt ohne Vorwarnung ein Schulklassentsunami auf dich zu – ohrenbetäubender Ausdruck von Lebensfreude. Eidechse sofort hellwach und panisch. Gefahr, der Feind!! Jetzt geht es nur noch ums Überleben. Also eins oder null. Angriff: Verdammt, sind das viele und so kräftig gebaut. Flucht: Sie kommen von beiden Seiten. Jetzt weißt du auch, warum sich im Zug keine Fenster öffnen lassen – einfach zur Sicherheit, falls du deine Urinstinkte nicht im Griff haben solltest. Begriffen? Das Echsenhirn für den absoluten Notfall programmiert. Flucht oder Angriff - beides ist im Moment nicht möglich. Ergebnis: in deinem Hirn, ganz tief unten, bollert die Echse jetzt wie verrückt.
Emotion – Gefühle
Also in deinem Kopf herrscht jetzt Rambazamba. Aber der Mensch hat ja nun noch etwas mehr zwischen den Ohren, als nur ein Echsenhirn - auch wenn du Leute kennst, bei denen du dir nicht immer so ganz sicher bist, ob die nicht doch nur eine Kugel Vanilleeidechse dort oben beherbergen. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Jetzt soll ja, laut Fortbildung, auf der Eidechse eine Katze ruhen. Die Katze steht für deine Emotionen. Das Gehirn hat sich ja weiterentwickelt. Du bestehst ja nicht nur aus reinen Überlebensinstinkten. Die Katze steht hier sinnbildlich für ein sehr eigensinniges Wesen, unabhängig und nur sehr schwer zu kontrollieren – eben deine Gefühle. Kennst du ja selbst, das mit dem Controlling deiner Emotionen, die haben so ihren eigenen Kopf – auch und gerade dann, wenn die Gelegenheit gerade nicht so günstig ist. Natürlich, wenn jetzt alles paletti für dich läuft, dann schlummert die Eidechse vor sich hin, das Kätzchen schnurrt sanft. Aber beide bleiben unberechenbar. Jetzt Schulklassentsunami, die Eidechse rumpelt schon wie vom Teufel besessen unter der Katze rum. Da kannst du dir vorstellen, dass es bei deinem Kätzchen dann mit dem Schnurren ganz schnell vorbei ist. Da geraten die Emotionen, hast du es nicht gesehen, nur so in Wallung und es kommt zur Buckelbildung, die Krallen werden ausgefahren und das Kätzchen will schon losfauchen: „Hey ihr A…nasen, sofort die Musik leiser, ihr seid hier nicht allein! Und du, du Rotzlöffel: Schuhe vom Sitz, aber sofort! Sonst …“ Also, deine Emotionen, sprich die Katze, sind also gerade dabei quasi unkontrolliert durch die Decke zu gehen… Kannst du natürlich so machen – wird dann aber Scheiße, das mit der Situation und dem Controlling derselben, das kann ich dir hier ungesehen unterschreiben, dass das nicht zivilisiert abgehen wird.
Ist doch auch klar, denn auf der anderen Seite wimmelt es doch nur so von Echsen und Kätzchen, vor allem von sehr jungen, sehr agilen Echsen und Kätzchen. Drachen und Raubkatzen, meine Meinung. Ja, und das ist das Thema der Fortbildung gewesen: Umgang mit herausforderndem Verhalten von Jugendlichen. Und wenn du mal ganz ehrlich bist – gibt es bei den Pubertären überhaupt ein Verhalten, das nicht herausfordernd ist? Ganz unter uns, also unter uns betagteren Gesellschaftsteilnehmern: Nichtherausforderndes Verhalten von Pubertären ist doch eine Quadratur des Kreises, oder? Aber ich muss natürlich nicht erwähnen, dass mein guter Bekannter, der Herr W, das alles selbstredend viel differenzierter sieht. Na, wenn‘s ihm hilft.
Ratio - der Verstand
Aber, Evolution sei Dank, sind wir ja über das Echsen- und Katzenhirnstadium hinaus. Klar äußerst knapp nur, alles sehr labil, aber immerhin – deshalb ja auch die Fortbildung. Also, jetzt Herr W, die Krone der Evolution, mitten im Schulklassentsunami. Was tun? Bei Herrn W schaltet sich jetzt der Professor ein, der sich bis dahin mit der Zeitung beschäftigt hat. Der Professor, so die Fortbildung, steht hier quasi für den Vertreter der dünnen Decke der Zivilisation. Er sitzt im Gehirn ganz oben auf Katze und Eidechse, weil absolute evolutionäre Neuentwicklung. Der Professor steht für das Großhirn, das zuständig ist für Sprechen und Denken – obwohl, besser umgekehrt: Erst Denken und dann Sprechen. Der Professor, die Ratio, also unser Verstand, soll jetzt die unteren Stockwerke, also Emotionen und Instinkte, zur Räson bringen, vor allem aber die Katze zur Ordnung rufen, also Buckelrückbildung quasi Physiotherapie, Krallen einfahren, also Maniküre, und Schnurren statt Fauchen, quasi Stimmtraining. Kannst du dir denken, dass das Erfahrung braucht, damit die Sache mit der Zivilisation nicht jedes Mal entgleist, beinharter Job das – und viel Verantwortung, weil auf der anderen Seite, bei den Pubertären, da sitzt ja auf der Katze kein Professor. I wo, wenn du Glück hast, triffst du da maximum auf einen Studienanfänger – wenn du Glück hast, wie gesagt. Aber zunächst muss der Professor erstmal im eigenen Haus für Ruhe und Ordnung sorgen. Verstehst du? Es ist ja nicht so, dass die Emotionen angesichts der schieren Masse an Pubertären nicht authentisch wären, dass es sie nicht gäbe - aber eben kontraproduktiv vom zivilisatorischen Standpunkt aus gesehen, absolut. Er kann ja nicht den ganzen Tross aus dem Zug werfen, weil bei voller Fahrt lassen sich die Türen ja nicht öffnen. Folglich heißt es, irgendwie die eigene Katze beruhigen, um dem herausfordernden Verhalten zivilisiert begegnen zu können. Der Professor kramt also nach geeigneten Besänftigungsmethoden, die er bei Fortbildungen oder eben beim Lesen von Lebensratgebern so mitgenommen hat. Er kann jetzt versuchen, die Katze, sprich die Emotionen, durch positives Denken zu beruhigen. Beispiel: Du siehst den Hundehaufen auf der Straße etwas zu spät – und dann denkst du nicht: „Oh Scheiße!“ und flippst aus. Sondern: „Oh wie schön, da hab ich ja ne ordentliche Portion Dünger an den Schuhen, eine Investition in mein persönliches Wachstum!“ Oder andere Methode: Der Professor flüstert dem Kätzchen zu: „Ruhig Braune, das hier ist nicht Armageddon, nein, es sind zukünftige Steuer- und Renteneinzahler und Pflegekräfte, die einmal bis 70 arbeiten müssen, ohne je selbst ausreichende Rentenansprüche zu erwerben. Die meisten von ihnen werden einmal in prekären Jobs landen oder drogensüchtig oder beides.“ Und schon ist die Katze besänftigt: Aus schierer Verzweiflung wird quasi Mitleid. Du kannst so eine Situation auch gelassen und mit Humor nehmen – aber soweit ist Herr W in seiner persönlichen Entwicklung noch nicht. Und wenn er dann, so angeschlagen, in seine Wohngruppe kommt mit den seheingeschränkten Pubertären, geht es ja meist gleich weiter. „Hallo, ich bin schon da! Bei mir sind die letzten beiden Schulstunden ausgefallen und da habe ich mir mal eben Rühreier gemacht – persönliche Premiere heute, weil ich hatte einfach keine Lust, in den Speisesaal zu gehen.“ Jetzt hätte das Bürschlein das mit dem Rührei gar nicht sagen brauchen, weil Herr W das schon rein optisch selbst sah - überall in der Küche: auf dem Herd, dem Boden, der Ablage, dem Tisch - und in der Pfanne pappte auch noch ein Rest davon – sehr dunkel. Das war dann nach dem Schulklassentsunami schon die zweite Überraschung für die Katz‘ - also die Bescherung in der Küche. „Ich hab jetzt ‘ne Verabredung. Ich mach das dann später weg.“ Und da kannst du dir ja denken, dass bei diesen Worten die Katze zusammen mit der Eidechse ein wildes Tänzchen aufführen wollte – und der Professor jetzt alle Hände voll zu tun bekam, dass die beiden nicht wie eine Rakete ab durch die dünne Schicht der Zivilisation starteten. Ich will jetzt mal vorspulen. Herr W blickte auf die Küchenuhr und dachte, da war es noch keine halb zwei: Mann, bin ich fertig – und noch so viel Tag über.
Ja, und da würde er sich schon noch mehr Input durch Fortbildungsveranstaltungen wünschen. Einfach mal neue, originelle Ideen und Anregungen im Umgang mit Pubertären bekommen, was zukunftweisendes, eben so in der Art wie bei Raumschiff Enterprise. Wie hätte denn zum Beispiel Mr. Spock in so einer Küchensituation reagiert? Pass auf: Leichte Kopfbewegung von rechts nach links. Rechte Augenbraue nach oben gezogen und dann: „Faszinierend, die Idee mit der Verabredung, aber völlig unlogisch!“ Keine Gemütsregung bei ihm, nichts – Gelassenheit pur. Aber jetzt musst du dir vorstellen, dass das Bürschlein ja noch gar keinen Professor im Hirnkasten hat, sondern nur einen Studienanfänger, Orientierungswoche Maximum - für den ist Spock ja sozusagen ein Außerirdischer. Der versteht ja gar nicht die Sprache von Spockies Professor - also was der so mit unlogisch meint, dieser Alien. Aber zum Glück beherrscht Spock ja den Kniff mit dem paralysierenden Nackenschultergriff – nur für den Fall, dass das Bürschlein dann doch unverrichteter Dinge das Weite im Weltall suchen will. Feine Sache, dieser Griff – und ich sage, daran könnte und müsste Fortbildung ansetzen. Dann könntest du den Pubertären auch mit mehr Gelassenheit und Humor begegnen. Aber wie gesagt, soweit ist mein guter Bekannter, der Herr W, persönlich noch nicht, der Humor fehlt ihm ebenso wie die richtige Grifftechnik – deshalb, haste nicht gesehen, Bürschlein entwischt: „Mache ich nachher, hundertpro ... super, danke, hab es wirklich eilig, du bist der Beste!“ Da hatte er, also Herr W, noch keinen Ton gesagt, weil da war er noch mit Luftschnappen befasst. Und jetzt? Weißt du, dass Putzen unheimlich meditativ sein kann? Bald schnurrte die Katze in ihm wieder. Vielleicht sollte Fortbildung auch mal an so einem Punkt ansetzen.