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Heute: Der Zugvogel
Winfried Thiessen* - Nächster Halt: Marburg! Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung rechts! Wir verabschieden uns von den Reisenden, die in Marburg aus- oder umsteigen! Ihre Anschlusszüge können aufgrund einer Verspätung leider nicht mehr erreicht werden! Wir bitten dies zu entschuldigen!
Der Anflug
Unter der Kuppel aus Stahl und Glas des Frankfurter Hauptbahnhofs wogten die Menschenmassen hin und her. Suchende Leiber mit und ohne Koffer schlängelten und drängelten sich aneinander vorbei, blieben stehen, änderten ihre Richtung, rempelten sich an, schimpften – und gingen alsbald wieder ihres Weges. Wochenende: ein rhythmischer Ausnahmezustand – Albtraum für jeden Berufspendler. Herr W bahnte sich eilig seinen Weg durch orientierungslos dahindriftende Körperwelten, wurde immer wieder gestoppt durch Fahrradtouristen, die ihre vollbepackten Drahtesel in seinen Laufweg gestellt hatten. Der Zug Richtung Marburg wartete bereits auf Gleis 9¾. Die hinteren Waggons waren schon gut besetzt. Nach einem noch freien Vierersitzplatz suchend, durchwanderte er die Abteile, bis er an der Zugspitze schließlich fündig wurde. Noch gut zwölf Minuten bis zur Abfahrt. Er verteilte Jacke und Rucksack großzügig auf die noch unbesetzten Plätze vor und neben sich, entledigte sich seiner Sandalen, parkte seine Füße auf der gegenüberliegenden Sitzgelegenheit, setzte einen abweisenden Blick auf und vertiefte sich sodann in seine Zeitung. Noch neun Minuten bis zur Abfahrt. „Hey Leute, hier oben ist noch was frei!“ Entsetzt wandte sich Herr W um. Eine Rotte Punks mit knallig bunten Haaren und Nieten an den Lederjacken, drei Hunde, ein bedrohlich großes Musikabspielgerät und zwei Bierkästen waren im Begriff, das Abteil zu entern. Die fidele Schar begann sich sofort in die noch freien Sitzplatzreihen einzufädeln. Er taxierte die Gruppe entgeistert und hoffte darauf, dass der Jungmännerschwall versiegen würde, bevor er seine Sitzreihe erreicht hätte. „Sind die noch frei?!“ Herr W fuhr ruckartig herum. Sechs fragende Kulleräugelein waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Von der anderen Seite des Ganges hatte eine Klasse Grundschulkinder das Abteil geflutet. Nun umringten ihn drei kleine Gören und bauten verschüchtert moralischen Druck auf. Sein Sitz ruckelte unangenehm. Hinter ihm hatten es sich zwei Punks bequem gemacht. Es zischte. Ein röhrender Rülpser tönte durch das Abteil. Die drei Mädels kicherten. Krächzender Lärm aus vibrierenden Boxen begann durch das Abteil zu wummern. Immer noch schauten ihn die drei Grundschulmädels mit fragenden Blicken an. Herr W setzte sein very eiskaltes Lächeln auf, nahm demonstrativ umständlich seine Füße vom Sitzplatz, schlüpfte langsam in seine Sandalen, nahm gemächlich seinen Rucksack und die Jacke von den anderen Sitzen – und schon hatte er den ersten Schuhabdruck auf seiner hellen Jeans. „Tschuldigung!“ „Macht nichts Kleine, kann passieren!“ Auf den Sitzen hinter ihm herrschte ein munteres Treiben. Es polterte und schepperte. „Mensch, das gute Bier! Pass doch auf!“ Kneipengeruch stieg ihm in die Nase. Die drei Mädchen begannen, kaum dass sie richtig saßen, Lunchpakete nebst Kakao, Apfelsaftschorle und O-Saft auszupacken. Herr W wollte noch helfen den Tetra Pak mit der Schorle zu öffnen, aber das Kind hatte es schon alleine geschafft. „Tschuldigung!“ „Nicht schlimm! Kann passieren, Kleine!“ Herr W versuchte den feuchten Fleck auf seiner Hose zu ignorieren. „Soll ich euch beim Kakao helfen? Mach ich wirklich gerne! … Doch, doch!“ In den Reihen hinter ihm wurden Chips-Tüten aufgerissen und immer wieder Bierflaschen geöffnet und nach hinten durchgereicht. „Hey Kleine, nicht so auf die Kakaotüte drücken! ... Du musst am Strohhalm ziehen! Ja, so! Nicht reinpusten, das mag der Onkel nicht, o.k.?“ Kurze Zeit später machten sich die zwei Punker hinter ihm auf die Suche nach einem Örtchen, an dem sie ihr Bier wieder loswerden konnten. Etwas Ruhe kehrte ein, und bis Marburg blieben die beiden verschwunden. Wenigstens auf die nicht funktionierenden Toiletten konnte man sich noch halbwegs verlassen, wusste Herr W als erfahrener Bahnfahrer. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet, sein T-Shirt nässte – irgendwann kam dann doch die Erlösung: Nächster Halt Marburg! Ausstieg in Fahrtrichtung rechts! Durchweicht packte Herr W seine sieben Sachen und verließ fluchtartig das Abteil. Spätestens im nächsten Winter würde die Klimaanlage mit Sicherheit wieder arbeiten.
Die Mittagssonne knallte auf den Bahnhofsvorplatz. Im Gehen nahm Herr W einen kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche. Die lauwarme Plörre aktivierte sein inneres Sehnsuchtsauge, vor dem nun seine Wohngruppe in der Biegenstraße auftauchte: die Küche mit dem Espressokännchen auf dem Herd, die schaumig geschlagene Milch in einem hohen Glas, die dampfende dunkelbraune Flüssigkeit, die sich aus dem Kännchen in das jungfräuliche Weiß der Milch ergoss, sämiger Schaum, der leicht an seinen Lippen kitzelte, während er ganz entspannt auf seinem schattigen Stammplatz am Küchentisch auf den sommergrünen Garten blickte. Wie er diese Ruhe, dieses Ritual liebte, ach was – brauchte! Noch fünf Minuten, dann war er endlich in der Wohngruppe. Herr W freute sich auf die Arbeit!
Die Landung
Er entriegelte die Wohngruppentür. Schon beim Betreten des Flurs wehte ihm ein zarter Duft von Ei und Bratenfett entgegen. Sein: „Hallo, jemand zu Hause!?“ blieb unbeantwortet. In der Küche stapelte sich das Geschirr auf der nicht ausgeräumten Spülmaschine. Herd und Fußboden waren übersät mit Fettspritzern. Neben der benutzten Pfanne türmten sich Eierschalenberge. Auf dem Küchentisch stand ein leerer Frühstückskorb mitten in einem Ozean aus Brötchenkrümeln, nur unterbrochen von kleinen Inseln aus Butter, Frischkäse- und Marmeladenklecksen. Links schmatzte das Fett und rechts knackten die Brötchenbrösel unter seinen Schuhsohlen. Vier Scheiben des guten American Sandwich lugten braungebrannt aus dem Toaster. Da waren die Augen wohl größer als der Magen gewesen, dachte Herr W. Butter- und Käsedose hatten es nicht wieder bis in den Kühlschrank geschafft. Was sie jedoch in der Brotbox zu suchen hatten, entzog sich seiner Phantasie. Jetzt erst bemerkte er den kleinen Zettel neben dem Kühlschrank, auf dem in krakeliger Schrift zu lesen stand: Sind raus an die Lahn! Bis nachher! Er nahm sich der Butter und des Käses an – zu spät registrierte Herr W die Schokocreme am Kühlschrankgriff!
Epilog
„Was war denn Sonntag los? Steffen meint, er hätte dein Gezeter bis in sein Zimmer gehört!“ „Ach, da war noch jemand in der Wohngruppe?“ unterbrach Herr W seine Kollegin. „Ich kann dir sagen, was los war! Die frühstücken und hauen dann einfach ab an die Lahn … Ich mache den Kühlschrank auf … und?! – nicht einen Tropfen … nicht einen einzigen winzigen Tropfen Milch haben sie mir für meinen Cappuccino übrig gelassen – an einem Sonntag!!“
„Herrje, du Ärmster! Der fehlende Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat! Tja, da lässt man sie mal zwei Stunden unbeaufsichtigt … Ich sag’ es ja schon immer: ohne diese Lumpen wäre das einfach ein super Job hier ;-)“
[* Pädagogischer Mitarbeiter im Internat, Fotos: Winfried Thiessen]