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heute: ein Corona-Thriller
von Winfried Thiessen
Donnerstagmorgen
Regen prasselte gegen ihre Fensterscheibe. Umständlich tastete sie in der Dunkelheit nach ihrem Smartphone. 11:32 Uhr sagte eine sanfte Stimme zu ihr. In einer Stunde hätte sie Schulschluss gehabt, hätte durch den kalten Märzregen zurück in die Wohngruppe laufen müssen, wäre nass bis auf die Knochen dort angekommen - Blindenstock und auch noch einen Regenschirm halten, das war einfach zu viel des Guten. Seit Wochen waren sie nur noch zu dritt in der WG – alle aus dem Abgangsjahrgang, alle kurz vor dem Abitur stehend, eine kleine Gemeinschaft, die dem Corona-Lockdown trotzte. Der Rest der Bewohnerschaft war entweder im Praktikum am elterlichen Wohnort oder machte von dort aus Homeschooling - die Ärmsten.
Es war nicht das Trommeln der dicken Tropfen gegen das Glas des Fensters, das sie aus ihrem Halbschlaf geweckt hatte. Jemand hatte wahrscheinlich ganz kurz die Klospülung betätigt. Nach den ersten zwei Tagen in ihrem neuen Zimmer konnte sie noch nicht alle Geräusche richtig zuordnen. Vielleicht waren bei ihrem Mitbewohner Martin die letzten Stunden ausgefallen und er war früher aus der Schule zurück - in den Speisesaal geht er ja nach dem Unterricht so gut wie nie. Aber egal. Den ganzen Donnerstag keine Schule zu haben, zuhause bleiben und ausschlafen zu können, während alle anderen büffeln mussten – konnte es etwas Schöneres geben? Aber was hieß schon alle anderen - bei drei Leuten - sie eingerechnet, auf zwei riesigen Etagen. Es war ruhig. Viel ruhiger als gewohnt, niemand störte und nervte, aber es war auch einsam, aber bestimmt nicht einsamer, als daheim im Lockdown zu sitzen und Homeschooling machen zu müssen, ohne Kontakte oder die Möglichkeit, Freunde zu treffen. Hier in der unteren Etage waren sie nur zu zweit. Sie und Martin, oben noch Lila und ein Erzieher, aber die kamen ja immer erst gegen 13 Uhr. In das kleine WG-Zimmer, das sie jetzt bewohnte, war sie vorgestern umgezogen, hatte rausgewollt aus ihrem ehemaligen Zimmer, das ihr schon lange viel zu groß vorgekommen war - ungemütlich groß, unbewohnbar fast. Im Winter, wenn die Heizung so richtig bollerte, knackte das Holz der Kommoden und Schränke, wenn man sie zu nah an die am Boden verlaufenden Heizungsrohre gerückt hatte, und dieses Knacken kam ihr von Tag zu Tag lauter vor, wie in einer Halle, die hohen Decken des Altbaus, die vielen ungenutzten Kubikmeter. Jetzt in ihrer kleinen Bude war es schön kuschelig und übersichtlich. Man drehte den Heizkörper an und es wurde sogleich warm, es dauerte nicht mehr ewig wie bisher. Sie brauchte auch den ganzen Platz nicht mehr, seit ihr Augenlicht immer mehr abgenommen hatte. Aus dem Flur drangen Schrittgeräusche zu ihr.
„Martin!!?“ Keine Antwort. „Martin, bist du es!?“ Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie lauschte noch eine Zeit lang in die Finsternis hinein, zog ihr Kuscheltier näher an sich heran und versuchte noch einmal einzuschlafen.
Donnerstagabend
Herr W klopfte, wartet ungeduldig auf das „Ja, herein!“ und riss die Tür auf, sobald er ein leises „Ja“ vernommen hatte. „Du kannst hochkommen! Das Abendessen steht so gut wie auf dem Tisch!“ Die Frage „Was gibt es denn?“ hörte er bereits nicht mehr. Da war er schon wieder auf dem Weg in den zweiten Stock, um die Nudeln abzugießen, bevor sie begannen, sich aufzulösen. Das Kochen in Corona-Zeiten war deutlich entspannter als üblich – weniger Mäuler, weniger unterschiedliche Vorlieben, paradiesisch nahezu. Das Gleiche galt für das Abendessen. Wie in einer Kleinfamilie ging es zu. Der alleinerziehende Vater mit seinen beiden Töchtern und dem Sohn, der ihn um fast einen Kopf überragte und schon mehr Bart hatte als er selbst. „Hast du eigentlich den ganzen Tag im Bett gelegen, Lena?“ „Nö, nö, war mal kurz oben, habe mir was zu essen geholt, aber sonst ja. - Martin, was ist denn bei dir ausgefallen? Ich habe dich um halb 12 im Flur gehört und nach dir gerufen, aber du hast mir nicht geantwortet?“ Martin unterbrach den Prozess der schnellen Kalorienzufuhr nur kurz. „Wie soll ich dir denn antworten? Um halb 12 war ich noch in der Schule“. „Aber ich bin mir sicher, dass jemand unten war – Lila vielleicht?“ Herr W - ganz Vorbild, ganz voll der Mund, mischte sich ein: „Lila war auch in der Schule, oder Lila?“ Lila nickte kurz, der Transport der Nudeln vom Teller zum Mund brauchte ihre volle Aufmerksamkeit. “Und ich war es auch nicht, bin erst gegen eins gekommen …“ „Dann muss es wohl die Putzfrau gewesen sein.“ „Nein, kann nicht sein! Die war heute gar nicht da, hat mir Danny jedenfalls so ins Teambuch geschrieben. Die Wohnung ist so hellhörig und du wohnst direkt neben dem Treppenhaus, die Handwerker sind in der Wohnung im Parterre zugange - wer weiß, was du da gehört hast!“ „Hey, du Pädagoge, ich bin vielleicht blind, aber nicht taub!“ „Kann ich noch eine Portion haben?“ „Jetzt ist aber gut! Martin, du hattest schon zwei. Wenn keiner mehr was will, kannst du nachher die Reste haben.“ „Übrigens, ich wollte noch Bescheid sagen, dass ich von Samstag auf Sonntag nach Hause fahre, mein Bruder hat Geburtstag.“ „Waaas, du lässt mich allein, dann ist unten ja gar nichts mehr los.“ „Du wirst es überleben. Kann ich vielleicht doch noch eine Portion haben - wenn die anderen auch sooo langsam essen …“
Samstagabend
Dutzende Programme, aber nirgends kam etwas wirklich Interessantes, Fesselndes, vielleicht war er auch einfach nur müde. Herr W schaltete den Fernseher aus und sein Handy auf lautlos. Wenn jetzt kurz vor Mitternacht noch irgendjemand etwas von ihm wollte, sollte er doch klopfen. Immer alles über das Smartphone zu kommunizieren, selbst wenn man nur zwei Zimmer entfernt lebte, musste nicht sein, andererseits war es eben auch recht bequem. Vor allem musste er jetzt nicht jedes Mal runter in die untere Etage, wenn er etwas von den Bewohnern wollte. Er legte sich ins Bett und knipste zufrieden das Licht aus – Feierabend.
Ihr Freund war über das Wochenende nach Hause gefahren. Sie hatte noch bis kurz nach zwei mit ihm telefoniert, hatte sich leer gequatscht, war jetzt todmüde, obwohl sie wieder den halben Tag im Bett verbracht hatte. Der große Kuschelbär nahm den Platz ihres Freundes ein. Sie bearbeitete ihr Kopfkissen, bis es passte, rollte sich auf die Seite in den Bären hinein und dämmerte langsam weg. Sie hatte anscheinend noch nicht tief und fest geschlafen, sonst hätte sie das Geplätscher der Toilettenspülung nicht geweckt, das gleiche Geräusch wie vor zwei Tagen. Nur ganz kurz zu hören, dann war es wieder still. Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Waren da nicht wieder Schritte im Flur? „Hallo?! Lila?“ Sie erhielt keine Antwort. War sie doch nicht allein auf der Etage? Sie schlich lautlos zur Tür, tastete nach dem Schlüssel und dreht ihn leise im Schloss um. Zurück im Bett schickte sie eine WhatsApp an Herrn W, die aber unbeantwortet blieb. Keinen Schritt würde sie heute Nacht aus ihrem Zimmer nach draußen machen, schwor sie sich. Eher würde sie ins Waschbecken pinkeln. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Herr W einmal von der alten Frau erzählt hatte, die in dieser Wohnung - oder war es die Wohnung oben drüber? - gestorben war, damals vor vielen Jahren, bevor die beiden Etagen zu einer blista-WG umgebaut wurden. Sie stellte sich vor, wie die alte Frau tagelang in ihrem Bett gelegen haben musste, bevor man sie fand. Vielleicht hätte sie als Kind doch nicht so viele Horrorfilme schauen sollen. Sie zog ihren Kuschelbären energisch an sich heran und versuchte wieder einzuschlafen.
Sonntagmorgen
„Guten Morgen! Frühstücken wir zusammen?“ Herr W legte die Brötchentüte auf den Küchentisch. „Bin gleich wieder da, muss nur noch meine Klamotten loswerden und die Hände waschen.“ – „So, da bin ich wieder, habe ich einen Hunger!“ „Sag mal, waren du oder Lila heute Nacht unten?“ fragte sie Herrn W, während der gerade den Kaffee in die Filtertüte löffelte. „Ich? Lila? Was glaubst du, was ich nachts mache – schlafen, tief und fest! Wie kommst du denn darauf?“ Herr W schaltete die Kaffeemaschine an. „Ich glaube, ich habe die Toilettenspülung gehört und dann war da jemand im Flur gewesen. Ich bilde mir das nicht ein. Es war gruselig!“ „Hier ist niemand. Wer sollte hier sein?“ „Die alte Frau, die hier gestorben ist?“ Sie tastete nach dem Brötchenkorb. „Weiter links. Jetzt hör aber mal auf, wie alt bist du? Außerdem, heute Abend ist Martin ja auch wieder da. Aber wenn es dich beruhigt, schaue ich nachher mal unten durch alle Zimmer. Die haben wir aber sowieso abgeschlossen, sind ja alle zuhause. Nur dein jetziges und dein altes Zimmer, in dem du übrigens immer noch Klamotten von dir liegen hast, sind offen – bei Martin weiß ich es nicht, ob der abgeschlossen hat. Aber jetzt frühstücken wir erstmal und dann gehe ich mit den Ersatzschlüsseln runter und schaue nach.“
Herr W kehrte nach zehn Minuten zurück ins obere Stockwerk. „Und?“ „Nichts. Alle Zimmer waren abgeschlossen – ich habe alle aufgeschlossen und kurz reingeschaut. Martins war auch zu - pinkelst du eigentlich im Stehen?“ „Wie soll das gehen, als Mädchen?“ „Dann muss ich mir wohl heute Abend mal Martin zur Brust nehmen, das geht nicht, das ist ekelhaft.“ „Ich sag dir, ich schlaf da unten trotzdem nicht mehr allein!“ „Du siehst, 'tschuldigung, hörst Gespenster – da ist niemand. Warum sollte da jemand im Flur rumlaufen mitten in der Nacht?“ „Weiß ich doch nicht!“
Montagmorgen
Die Reinigungskraft hatte sich über den Eimer mit dem Putzwasser gebeugt, wollte gerade beginnen, den Flur im unteren Stockwerk zu feudeln, als sich direkt neben ihr die Tür eines verwaisten Schülerzimmers öffnete. Sie fuhr erschrocken hoch und stieß dabei einen kurzen Schrei aus. „Hast du mich erschreckt! Phillipp, was machst du denn hier?! Bist du nicht zuhause?! Herr W hat mir gesagt, hier unten ist niemand. Hast du ihm nicht Bescheid gesagt, dass du da bist?“ „Äh, wollte nur ganz kurz was aus meinem Zimmer holen. Bin gerade in Marburg bei meinem Bruder! Muss jetzt schnell los. Also, tschüß.“ Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, atmete tief durch um ihren Puls wieder runterzufahren. Kurz darauf kam Herr W, um sich in den Feierabend zu verabschieden. „Wusstest du, dass Phillipp da ist?“ fragte sie ihn unsicher. „Wie, Phillipp ist da? Phillipp ist zuhause in Bremen, macht wie alle anderen auch Homeschooling.“ „Nein, nein. Er ist gerade aus seinem Zimmer gekommen. Er hat gesagt, dass er in Marburg bei seinem Bruder sei und nur schnell was aus seinem Zimmer geholt hat. Aber ich glaube, er hat hier geschlafen.“ Herr W fiel es wie Schuppen aus den Haaren. Die eingetrockneten Spritzer neben der Toilette. Die Schritte im Flur. Das Gespenst hatte also einen Namen. „Ich überleg mir was. Übrigens, Phillip hat keinen Bruder. Er ist sowas von einem Einzelkind. Ich muss jetzt. Tschau bis übermorgen.“
Nachtrag
„Moment mal Herr W! Ein Thriller, der ganz ohne Leichen auskommt und einfach so ausplätschert?!“