Winnies wunderbare Welt
Heute: Dauerwerbesendung
von Winfried Thiessen
Vorspann
Mama und Papa brachten mich nach Marburg zur blista. Sie führten mich ins Büro des Direktors. Sie sprachen mit dem Direktor. Währenddessen saß ich, ganz in mich gekehrt, auf einem knarrenden Stuhl. Der Direktor begrüßte meine Eltern, und Mama drückte mich an sich und machte mir mit ihren Tränen das Gesicht nass; und Papa küsste mich ab, und dann ließen sie mich allein und ich musste weinen wie Mama. Ich wischte die Tränen in mein Handtuch. „Na, na, Kevin, nur nicht weinen“, sagte der Direktor. „Du bist doch ein großer Junge, und wir haben hier eine so schöne Anstalt.“ *

1.Szene
Peter: „Pass auf, Jan! Wir halten mit der Kamera zunächst voll auf das Gebäude drauf, in dem sich die Wohngruppe befindet. Zoomen dann alles ran bis nur noch die Haustür zu sehen ist. Dann wieder eine Totale und danach einen langsamen Schwenk nach links und dann machen wir eine Kamerafahrt die Biegenstraße entlang in Richtung Rudolphsplatz und anschließend wieder zurück. Dann, sofort im Anschluss, in die andere Richtung bis zur Volkshochschule und zum Ende hin noch mal eine Totale aufs Haus – zwei, drei Sekunden einfrieren und dann Schnitt. Später kommt die Tonspur dazu, die das Gesehene erläutert: also Kino, Bäcker, Dönerladen, Burgerbude, Supermarkt, Bushaltestelle, Stadthalle, Shisha-Bars und dann ergänzt der Sprecher noch die Sachen, die der Kamera verborgen geblieben sind. Also, dass du den Bahnhof, die Schule – ach, einfach alles – von der Wohngruppe aus bequem zu Fuß erreichen kannst. Die Botschaft soll lauten: Schule, Freizeitvergnügen – alles dicht beisammen. Marburg, die pulsierende, jugendliche Stadt und du mitten drin – Inklusion eben. Wir sind kein Blindenghetto.“
Jan: „Aah, verstehe! Aber Peter, mir kommt das jetzt etwas mager vor. Damit kannst du vielleicht einige Dörfler an die blista locken, die das Rumsitzen an der einzigen Bushaltestelle im Ort total über haben.“

2.Szene
Peter: „Nicht so ungeduldig, Jan. Das ist doch erst der Anfang. Als nächstes machen wir eine Kamerafahrt durch das Treppenhaus bis in den ersten und zweiten Stock, also bis dorthin, wo die blista-WG untergebracht ist. Du hast doch Kontakt zu einem der Studenten, der in der Studi-WG unterm Dach wohnt. Den könntest du mal fragen. Also, ich stelle mir das so vor: Kamerafahrt durchs Treppenhaus hoch zur blista-WG und da kommt uns eine Gruppe von Studis aus der WG unter dem Dach zufällig entgegen – gut gelaunt, plaudernd und lachend. Sozusagen eine Projektion in die Zukunft, die Zeit nach dem Abitur.“
Jan: „Verstehe: Mietshaus, kein Blindenghetto, mitten drin, pulsierendes Leben, Inklusion mit Zukunftsvision. Können wir vertonen mit Conquest of Paradise von Vangelis oder nein, besser noch Stairway to heaven.“
Peter: „Mann Jan, super Idee. Wir müssen mit den Vorurteilen gründlich aufräumen, die es über das Internatsleben gibt – wir wollen ein positives Lebensgefühl verkaufen. So was wie den blista way of life! Pass auf!“ Peter zieht sich die Kapuze über den Kopf und setzt eine Sonnenbrille auf, öffnet den Reißverschluss seines Kapuzenpullis und eine behaarte Brust mit einem Goldkettchen kommt zum Vorschein.„Yo Bruder, ich brauch‘ mal deine Aufmerksamkeit! Du siehst nicht gut – aber dafür umso besser aus. Du denkst, so ein Internat ist nichts für dich – ich zeig dir mal was! Hier, in dieser megageilen Hütte wirst du logieren – schau dich nur mal um! Ein angesagter Friseur, der dir auch günstig die Augenbrauen zupft und die Nasenhaare entfernt, ein Bäcker, gleich drei Shisha-Bars, ein Halal-Supermarkt, Kneipen – ein kurzer Jump und du stehst auch schon vor der Kulturhalle, da treten die besten Rapper der Stadt auf, dann noch Kino, Stadthalle, Pommes- und Dönerbuden – futtern wie bei Muttern mit und ohne halal – ist das nicht paradiesisch – fehlt nur noch der Strand.“

Jan: „Das mit dem Goldkettchen, naja – aber sonst ganz o.k. Guter Sound, kommt bestimmt auch bei den Vollblinden gut rüber.“
Peter: „Können wir so natürlich nicht bringen, nachher rennen uns die Kids noch die Bude ein, aber die Eltern schieben Panik. Das ist zu gangstamäßig. Und die Kleinen machen sich vor Angst in die Hose. Also, bisschen seriöser müssen wir es schon machen.“
Jan: „Unterschätz die Kleinen nicht, die denken dann noch: super, da geht ja der Punk ab. Dabei kommen sie ja eigentlich nur – wenn wir mal ehrlich sind – um in der Schule geknechtet zu werden, oder Peter? Aber mir ist aufgefallen, du sprichst hauptsächlich die Jungs an!“
Peter: “Ist mir auch klar, Jan. Aber die Mädels, die brauchen nicht so einfache Trigger, und es sind doch in der Regel die Jungs, die sich schwertun. Zu Hause die kleinen Prinzen, da hat man schon mal Heimweh, darf es aber nicht zeigen – deshalb die Botschaft: Hier seid ihr die Kings. Die Mädels sind ja meist viel tougher und selbstständiger.“
3.Szene
Peter: „Jetzt kommt die Wohngruppe von Herrn W ins Spiel. Nach dem Treppenhaus machen wir noch verschiedene Einstellungen inside the WG. Kamerafahrt durch Küche, Wohnzimmer, Esszimmer und vielleicht noch ein Vorzeigeschülerzimmer.“
Jan: „Ich habe da auch eine Idee, Peter. Wir müssen was mit All Inclusive machen. Das kennen die aus dem Urlaub und von zu Hause – da können wir andocken, besonders bei den Jungs.“
Peter: „Jan, du denkst mit! Wir machen eine Halbtotale auf den Kühlschrank. Slow Motion: die Tür geht auf! Dann Zoom! Bumm! Cola, Fanta, Sprite, Ice-Tea, Ketchup und das Gefrierfach voll mit Pommes und Chicken Nuggets. Dann der Sprecher: Bruder, schon mal was von All Inclusive gehört? Der Kühlschrank wird täglich nach Wunsch frisch aufgefüllt. Da wir leider keine Unterbringungsmöglichkeit für all eure Mütter haben, gibt es in den Wohngruppen das pädagogische Personal, das nur für euch da ist, rund um die Uhr und sich um euch und eure Bedürfnisse kümmert. Hier ist die Küche – keine Angst, damit werdet ihr nicht allzu viel zu tun haben. Dann brauchen wir noch irgendwas von unsichtbaren fleißigen Geistern – hier läuft alles wie von Zauberhand, so ungefähr. So und jetzt gehen wir mal hoch und schauen uns die Location an. Herr W wartet sicher schon auf uns … Hallooo? Hey Mann, wie sieht denn die Küche aus? Hier können wir doch so nicht drehen! Ein Berg voller Geschirr. Die Ablagen vollgekrümelt. Hallooo, ist hier jemand?! Wer hat denn auf den Türöffner gedrückt?!“
Kevin: „Das war ich!“
Peter: „Huch, hast du mich erschreckt, hab dich gar nicht kommen hören. Wohnst du hier?“
Kevin: „Ja, warum?“
Peter: „Wo ist denn Herr W, ich meine das pädagogische Fachpersonal?“
Kevin: „Der müsste einkaufen sein. Was glaubt ihr denn, warum die Küche so aussieht? Der kam nicht mehr zum Ausräumen der Spülmaschine und da konnten wir unser Zeug nicht reinstellen.“
Peter: „Du meinst, Herr W macht hier alles für euch?“
Kevin: „Das meiste schon, das mit den gebratenen Tauben, die dir in den Mund fliegen - da hat er noch einige Probleme mit, aber er arbeitet daran. Aber wenn du statt Abendessen lieber Vorabendserie im TV schauen willst, dann bringt er dir das Essen schon mal ans Sofa. Ihr seid doch die beiden, die den Werbeclip für die blista drehen wollen, oder?“
Peter: „Ja, ja, aber mal unter uns – du veräppelst uns doch?“
Kevin: „Klar doch, wollte doch nur mal sehen, ob ihr euren eigenen Werbeversprechen aufsitzt. Ihr habt sowas von bedröppelt geguckt… das war´s schon wert. Tolle Kamera, übrigens.“
Die Wohnungstür geht auf und Herr W tritt schwerbepackt in den Flur.
Herr W: „Was für ein Glück, dass ich so früh los bin, gerade noch zwei Kilo Mehl zum günstigen Preis erstanden. Kevin, hast du mal rumgefragt, wann ich mit dem Abendessen fertig sein soll? – Ah, Peter und Jan, ihr könnt gleich wieder mit eurer Kamera abziehen!“
Peter: „Aber …“
Herr W: Nix aber – ich dachte, ihr wollt so einen fiktionalen Clip drehen. Hätte ich gewusst, dass ihr meine Betriebsgeheimnisse ausplaudern wollt, hätte ich nie zugestimmt. Dreht, wo ihr wollt, nur nicht hier! Und du Kevin, du hast doch in der Küche gar nichts verloren! Mein Reich – oder willst du dir nur eine Cola aus dem Kühlschrank holen?!“
* leicht abgewandeltes Zitat aus dem Roman: Gesicht in der Finsternis (1954)