Buchtipps

Helen Keller im Doppelpack

Winfried Thiessen*. Mittlerweile ein Klassiker, die Geschichte von Helen Keller (1880– 1968) und ihrer Lehrerin Anne Sullivan. Mit Anfang 20 folgt Anne Sullivan dem Ruf der Familie Keller und zieht von der amerikanischen Ostküste nach Alabama in den schwül-heißen Süden der USA. Dort soll sie sich als Erzieherin und Privatlehrerin um deren sechsjährige taubblinde Tochter Helen kümmern. Helen Keller ist zu diesem Zeitpunkt ein kleiner Wildfang, der in einer dunklen und lautlosen Welt gefangen ist. Sie hat wenig Möglichkeiten sich mitzuteilen und keinen Begriff von der Welt, die sie umgibt. Anne Sullivan versucht, den kleinen Wildfang „zu zähmen“ und bringt Helen das Fingeralphabet bei. Damit legt sie den Grundstein für Helens weiteren erfolgreichen Lebensweg, der sie später bis in die Universität führen sollte. Anne Sullivan wird bis zu ihrem Tod (1936) zu Helens ständiger Begleiterin und Weggefährtin.

Buchcover von „Sprechende Hände“
Buchcover von „Sprechende Hände“ © blista 2015

Die Geschichte dieser beiden starken, ehrgeizigen und intelligenten Frauen wird in Helen Keller und Anne Sullivan – Öffne mir das Tor zur Welt! von Helen E. Waite erzählt. Das lesenswerte Buch hat schon über 30 Jahre auf dem Buckel und wurde im Februar 2015 neu aufgelegt. Nur wenige Monate später, im Juni 2015, erschien Sprechende Hände – Die Geschichte von Helen Keller von Joseph Lambert als Graphic Novel, ein Comic für Erwachsene. Auch wenn das Buch die Lebensgeschichte beider Frauen viel detaillierter schildern kann, so hat doch die liebevoll gezeichnete Comicversion ihren ganz eigenen Reiz. Die Graphic Novel ist mit einem umfassenden Glossar versehen, in dem noch einmal die Bedeutung von Orten und Personen, die in der Handlung vorkommen, zum besseren Verständnis erläutert werden. Unterhaltsam und spannend sind beide Versionen.

Hugues De Montalembert – Der Sinn des Lebens ist das Leben

1978. New York. Als Folge eines brutalen Überfalls in seiner Wohnung erblindet der französische Maler und Fotograf Hugues de Montalembert. „Kehre ins Leben zurück!“ Am Anfang hält man das für unmöglich. Man geht zum ersten Mal auf die Straße, man sieht nichts, man hört nur Chaos, und nichts ist strukturiert. Man kann sich nicht ins Chaos begeben. Man muss die Welt neu erschaffen, man muss das Chaos ordnen. Ich sage Ihnen, vergessen Sie die Bibel, es dauert länger als sieben Tage, um eine Welt zu erschaffen. Von zahllosen Anekdoten und Lebensweisheiten aufgelockert, erzählt Montalembert, wie er mit dem Schicksalsschlag der plötzlichen Erblindung fertig geworden ist und wie er es geschafft hat, zurück ins Leben zu finden.

Buchcover „Der Sinn des Lebens ist das Leben“
Buchcover „Der Sinn des Lebens ist das Leben“ © blista 2015

Seine Zeit im Krankenhaus beschreibt er wie folgt:

  • JEDEN MORGEN ERWACHE ICH aus meinen Träumen, der einzigen Zeit, in der meine Sehkraft wieder intakt ist, und stelle mich erneut der enttäuschenden Wirklichkeit.
  • JEDEN MORGEN GLAUBTE ICH, diesmal würde es nicht so weit kommen.
  • Dann geschah es plötzlich, spätestens um halb elf. Es sog mich ins Dunkel herab.
  • JEDEN MORGEN ERWACHE ICH voller Energie, Optimismus und Vorfreude auf den beginnenden Tag, jeden Abend bleibt ein Gefühl der Niederlage. Tag für Tag eine Niederlage.
  • ALS ICH ENDLICH BEGRIFF, was da vor sich ging, sagte ich: Mach es wie die Tiere: warten, schlafen und nicht verzweifeln. (…) „Schlafe, warte, denk nicht nach und verzweifle nicht. Es kann nur besser werden.“
  • Gott sei Dank ist es besser geworden. Es wäre schrecklich gewesen, wenn nicht.

Montalembert gelingt es, seine handlungs- und diesseitsorientierte Lebensphilosophie völlig unaufdringlich in den Erzählstrang einzuflechten. Ein kurzweilig geschriebenes Büchlein in anekdotischem Stil, der sich auf das Wesentliche konzentriert. Kurz: Ein Buch, das dem Leser beim produktiven Auswerten der eigenen Lebenserfahrungen und -erwartungen sicher nicht im Wege stehen wird und das durchaus die eine oder andere Anregungen geben kann.

„DIE EIGENTLICHE BLINDHEIT ist die Angst. Wenn man sich nicht kopfüber ins Geschehen stürzt, wenn man nicht lebendig und wach und neugierig bleibt und das Leben nicht unvoreingenommen genießt, dann liegt es an der Angst.

Lebensangst ist der Hauptfeind der Blinden.

Das vorgestellte Buch erhalten Sie in unserer Hörbücherei. Interessenten wenden sich bitte an info@blista.de oder bestellen telefonisch unter 06421 606-0.

Buchcover „Der Junge, der mit dem Herzen sah“
Buchcover „Der Junge, der mit dem Herzen sah“ © blista 2015

Virginia Macgregor – Der Junge, der mit dem Herzen sah

Meine erster Gedanke, als ich das Buch in den Händen hielt, war: Mein Gott, was für ein Wälzer. Über 400 Seiten und dann noch dieser schnulzige Titel, das kann doch nix sein! Welcher junge Mensch würde sich im Nach-Harry-Potter-Zeitalter von so einem Titel und der Thematik: – Kleiner, sehbehinderter Junge will Urgroßmutter aus Altenheim befreien – angesprochen fühlen? Doch meine Kundenberaterin in der Buchhandlung klärte mich auf: Fantasy ist out – Geschichten von sozialen Randgruppen dagegen gerade „in“. Der Frage bei wem „in“, bei den kaufenden und schenkenden Eltern oder bei den lesenden Kids, bin ich dann nicht mehr weiter nachgegangen.

Also gut ihr lieben 11, 12, 13 und, und, und -?Jährigen, liebe Mütter – hier die Kurzfassung des Inhaltes: In der Hauptrolle Milo, neun Jahre, und sein wesentlich jüngeres Hausschwein Hamlet. Milo hat die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa, die unweigerlich zur Erblindung führt. Im Moment bleibt ihm nur noch ein winzig kleines Guckloch. Aber gerade deswegen scheint aus ihm ein scharfer Beobachter geworden zu sein, der Dinge sieht, die den Erwachsenen verborgen bleiben.

Er erwischt den Vater in flagranti mit seiner heimlichen Geliebten. Klar, die Trennung der Eltern folgt auf dem Fuß und Milo fühlt sich schuldig. Papa macht sich mit der neuen Flamme, der Schlampe, ab nach Dubai und will dort ein neues Leben anfangen, weil geschwängert hat er sie ja auch noch. Milo bleibt mit seiner jungen, völlig überforderten Mutter allein zurück, und das Geld für die Ratenzahlung des Hauses wird bald knapp. Milo kümmert sich rührend um die bei ihnen wohnende Urgroßmutter, 92. Von Schlaganfällen gezeichnet, wird sie langsam dement, hat aber noch ihre lichten Momente. Doch Milos Mum wartet nur auf einen Grund, Gran Lou ins Altenheim abzuschieben. Den liefert Gran ihr dann auch, indem sie versehentlich (?) die Küche abfackelt – und schon geht es ab ins Heim.

Zu Milos Entsetzen sehen die Erwachsenen nicht, was in dem Heim vor sich geht. Deshalb beschließt er, Gran wieder nach Hause zu holen. Dazu braucht er aber genügend Beweise, um den Laden dicht machen zu können – und dafür wiederum Verbündete. Diese findet er in dem dort illegal beschäftigten Koch, einem jungen Flüchtling aus Syrien – ja, das Buch ist aktuell – und in einem fernen Verwandten, den seine Mutter vorübergehend in Grans altem Zimmer einquartiert hat, des Geldes wegen. Der Kerl besitzt einen Stapel von Bildern nackter Frauen, die Milo erst einmal konfisziert, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Doch dann behauptet der Lump doch tatsächlich, dass er ein Undercover-Journalist sei, der einen illegalen Mädchenhandel aufdecken will, also ein weiterer Verbündeter? Milo weiß bald überhaupt nicht mehr, wem er noch trauen kann. Und dann ist da noch Gran, die sich im Pflegeheim in einen alten Herrn verliebt und mit diesem herumschmust. Mama verliebt sich in den Syrer, und dann steht auch noch Papa vor der Tür mit der Schlampe und dem kleinen plärrenden Blag. Die Geschichte startet langsam, um dann an Fahrt zu gewinnen und mit einem traurigen Happy End auszuklingen. Menschen mit weichem Herz könnte es passieren, dass sich spätestens dann ihre Augen etwas mit Wasser füllen – also Taschentücher bereithalten. Ich saß gerade im Zug – und nicht allein, als ich zum bitterzuckersüßen Finale kam: verdammt war mir das peinlich! Ja, Milo hat wirklich ein Herz aus Gold.

Liebe Mütter, es ist nur eine Geschichte! Und nein, man darf die eigenen Kinder nicht einfach weggeben oder eintauschen, auch wenn es nach diesem Buch vielleicht naheliegt.

Buchcover „Die Traumwerkstatt von Kerala“
Buchcover „Die Traumwerkstatt von Kerala“ © blista 2015

Sabriye Tenberken – Die Traumwerkstatt von Kerala

„Wenn das mit Blinden in Tibet möglich war, warum sollten nicht auch Menschen aus anderen Randzonen der Gesellschaft, aus anderen Ländern und mit anderen Hintergründen durch eine ähnliche Schulung gehen können? Und so entstanden die ersten Ideen für ein internationales Trainingszentrum, das blinde und sehende Initiatoren für die Umsetzung sozialer Projekte ausbilden sollte.“

Vom kalten und kargen tibetanischen Hochland geht es mit Sabriye Tenberken diesmal in das subtropische, südindische Kerala. Die ehemalige blista-Schülerin und Gründerin der ersten Blindenschule in Tibet stellt in ihrem dritten Buch ihr aktuelles Projekt vor, die „Traumwerkstatt“ in Kerala. Hier sollen Kompetenzen vermittelt werden, die Menschen brauchen, um aus ihren Ideen reale soziale Projekte werden zu lassen.

Zwischendurch nimmt Tenberken den Leser immer wieder mit auf ihre Reisen durch Indien und Afrika, zu den Projekten der kanthari-Absolventen, in Gegenden jenseits der bunten Touristenbroschüren. Sabriye Tenberken macht uns mit dem Indien und Afrika von unten bekannt, berichtet von Armut, fehlender Bildung, von Aberglauben, Hexenjagden, menschenverachtenden Traditionen, von Kriegen und ihren Auswirkungen auf die verletzlichsten Mitglieder einer Gesellschaft. Aber vor allem stellt sie uns Menschen vor, die den Mut und die dafür nötige Wut im Bauch haben, Dinge ändern und die Welt etwas lebenswerter gestalten zu wollen. Die Absolventen können in der „Traumwerkstatt“ lernen, wie man die Stolpersteine, die man ihnen in den Weg legen wird, am besten umgehen kann, wie sie bei der Auswahl ihrer Unterstützer Freund und Feind auseinanderhalten können, und sie bekommen dort die Gelegenheit, ihre Projektideen nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Sabriye Tenberken gewährt zudem einen Einblick in die Gründungsphase des Instituts, in dem sie ein unterhaltsames, teils kurioses und oft auch nachdenklich stimmendes „Best of der Pannen“ präsentiert.

Natürlich fehlen auch nicht Sequenzen über die weitere Entwicklung der Blindenschule in Tibet und Berichte über das Leben ihrer ehemaligen Schüler. Tenberken beschreibt stringent, was sie aus ihren „tibetanischen“ Fehlern gelernt hat, und wie sie versucht hat, diese in ihr Projekt in Kerala produktiv einfließen zu lassen. Aber die Höhepunkte des Buches sind die fortlaufenden Berichte über die vielen außergewöhnliche Menschen, denen sie in Kerala begegnet ist, Menschen wie Samuel, kanthari­Absolvent und Gründer der Initiative Thumbs Up Uganda. „Ich habe beobachtet, wie Kinder aus nackter Angst und mit Ekel vor der eigenen Tat die Befehle befolgten. Irgendwann war ich an der Reihe. Es war eine gelähmte, vor Hunger sehr schwache Frau, die ich mit der Axt erschlagen sollte. Ich konnte nicht, und weigerte mich. Ich wusste, jetzt ging es mir an den Kragen. Ein Kommandeur gab einem der Jugendlichen ein Gewehr und den Befehl, mich zu erschießen.“

Anfangs strich ich mir Zitate und Passagen wie diese an, die ich später als Lesekostprobe in den Text einarbeiten wollte, aber bald realisierte ich, dass ich fast das halbe Buch angestrichen hatte. Die Traumwerkstatt von Kerala ist ein, wie sagt man so schön: Burner – Menschen, Länder, Abenteuer! Und Tenberken? Sie ist immer unterwegs und Marco Polo ein Stubenhocker.

Wollte ich mit ihr tauschen? Nur in meinen Träumen. Wer möchte schon mit voller Blase die ganze Nacht in einer leidlich bequemen Schlafstätte im afrikanischen Busch verbringen, weil er sonst Gefahr laufen würde, auf dem Weg zum Plumpsklo eine Mahlzeit für Hyänen abzugeben. Aber etwas neidisch darf man dann ob so viel Enthusiasmus und Tatendrang schon sein.

Ab in den Einkaufswagen und kaufen!

Das Buch gibt es als Hör- oder Punktschriftbuch bei der blista. Interessenten wenden sich bitte an info@blista.de oder bestellen telefonisch unter 06421 606-0.

* Pädagogischer Mitarbeiter im Internat