Keine Selbstverständlichkeit: Abi 2020
Von Imke Troltenier | Gesundheitsabfrage vor dem Schulgebäude, strenge Hygieneauflagen, Abstand, Abstand, Abstand. So sorgfältig und genau die Vorkehrungen an der Carl-Strehl-Schule getroffen wurden, so achtsam halten sich die 27 Abiturientinnen und Abiturienten der blista an die Regeln. Alle sind angereist, alle sind gesund und alle haben ihre Prüfungen angetreten.
„Sie werden dieses Jahr 2020 in Erinnerung behalten als der Abiturjahrgang, der unter den schwierigsten äußeren Bedingungen seit Jahrzehnten Abitur geschrieben hat“, sagt der Hessische Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz in einer ungewöhnlichen Videoansprache und führt aus: „Deshalb dürfen Sie aber auch in besonderer Weise darauf stolz sein.“
„Das Belastende“, erzählt Abiturientin Nalin Yalcin, „sind nicht die strengeren Sauberkeitsmaßnahmen. Die letzten Tage vor dem Beginn der Prüfungsphase waren katastrophal. Beinahe im Minutentakt kamen neue Nachrichten oder auch Gerüchte auf. Werden die Prüfungen nun geschrieben oder werden sie nicht geschrieben? Bis wann wird die Schule geschlossen sein? Während an dem einen Tag noch verkündet wurde, dass man doch nicht die Schulen schließen würde, wurde genau dies einen Tag später gemacht. In anderen Bundesländern werden die Prüfungen verschoben. An manchen Orten spricht man sogar schon davon, die Abiturprüfungen in diesem Jahr ausfallen zu lassen.“
Nalin Yalcin hat gerade Mathe geschrieben, ein wenig ausgepowert berichtet sie: „So hat sich das keiner vorgestellt. Das Lernen gestaltete sich in diesem Jahr, das würde ich mal behaupten, noch schwieriger als sonst. Während andere einem erzählt haben: ‚Mensch, ich konnte mich einfach nicht an meinen Schreibtisch setzen‘, rechnen viele von uns damit, dass es in einer Nacht-und-Nebel-Aktion doch heißen könnte: ‚Die Lage hat sich so verschlimmert, wir müssen die Prüfungsphase doch abbrechen.‘ Die meisten von uns sind deshalb extrem nervös und angespannt. Die Regeln in Bezug auf das soziale Miteinander belasten einen zusätzlich. Man sollte sich nur in kleinen Gruppen treffen. Erst waren Versammlungen nicht gestattet. Inzwischen darf man höchstens zu zweit raus, außer es handelt sich um Menschen, die eh schon zusammenleben.“
„Es ist großartig und beeindruckend, mit welcher äußeren Gelassenheit unsere Abiturientinnen und Abiturienten trotz allem mit dem Druck und der Riesenbelastung umgehen“, findet Schulleiter Peter Audretsch. „Die jungen Leute wirken fast entspannt und sogar erleichtert, dass sie ihre Arbeiten zu den regulären Terminen schreiben dürfen“, erzählt Oberstufenleiterin Silke Roesler.
Am Montag gab es im Leistungskurs Deutsch sieben schriftliche Prüfungen: Der Leistungskurs zählt zu den inklusiven Angeboten und setzt sich aus drei Abiturient/innen aus der Carl-Strehl-Schule und vier vom städtischen Gymnasium Philippinum zusammen. Heute ist das Fach Mathematik dran. Mit 19 Schülerinnen und Schülern ist es die größte Gruppe. Man hat die Sicherheitsabstände in allen Bereichen gut hinbekommen. Das Team der Hauswirtschaft hat viele leckere Stullen geschmiert und alle einzeln verpackt, individuelle Extraspeisen mit Namen beschriftet und das leibliche Wohl im freundlichen Blick. Da ansonsten kein Unterricht stattfindet, stehen die Türen offen, frische Luft zieht durch die Räume, alle sind beschäftigt und konzentriert bei der Arbeit. Keiner mault, Keine jammert. „Es ist einfach ein toller Jahrgang“, sagt Silke Roesler.
Nalin Yalcin, die zugleich auch Schulsprecherin der Carl-Strehl-Schule ist, macht sich dennoch große Sorgen: „Wir dachten wir würden lernen, unsere Prüfungen schreiben und danach etwas feiern gehen. Die Zeit mit Freunden verbringen, nach den Ferien noch ein paar wenige Klausuren schreiben. Unser Jahr sollte nach einer langen Pause im Mai durch die mündlichen Prüfungen enden, nur um dann wieder einen entspannten Sommer zu haben, um anschließend voll motiviert und ausgeglichen ins Studium zu starten.
Diese Illusionen haben sich geradezu in Luft aufgelöst. Wir befinden uns beinahe ausschließlich in den WGs, müssen nach den letzten, individuellen Prüfungen direkt abreisen und keiner weiß, wie es weiter geht. Auch wenn wir in Hessen geradezu Glück hatten, weil für uns nur wenige reguläre Schultage ausgefallen sind, wird die Prüfungsphase und damit auch unser Lernen von einem Gefühl der tiefen Unsicherheit geprägt. Die ständigen Nachrichten sind für viele eine unerwünschte Ablenkung, zudem eine, die einen entscheidenden Meilenstein in unserem Leben einfach nicht zum Rollen bringen will. Es ist eher so, dass wir vor einem Abgrund stehen, der unsere Unsicherheit symbolisiert. Keiner kann den Boden sehen. Wir haben zwar nicht das Pech entscheiden zu müssen, wie es in den nächsten Monaten weiter gehen soll, aber wir sind die, deren Leben gerade massiv von diesen Umständen gelenkt wird.“
Foto: Patrick Temmesfeld