Zeitenwende
- vom Leben nach der blista
Raphael Lehmbeck (geb. Ammon), Abitur 2014
20. Juni 2014: Endlich hielt ich mein Abiturzeugnis in Händen. Die vielen Klausuren und der Lernstress für die Abiturprüfungen lagen nun hinter mir.
Ein neuer Lebensabschnitt konnte beginnen, auf den ich mich auch schon freute. Ich hatte schon früh Überlegungen angestellt, wohin es nach meiner siebenjährigen blista-Zeit gehen sollte. Seit langem stand fest, dass ich auf jeden Fall studieren wollte. Nur wo und was, wusste ich noch nicht ganz genau. Im Herbst 2013 traf ich dann meine Entscheidung. Ich würde mich für den Studiengang Sprache und Kommunikation an der Philipps-Universität Marburg einschreiben. Da ich mich sehr für Fremdsprachen, kreatives Schreiben und auch für Sprachwissenschaft interessiere, war die Studienfachwahl genau das richtige für mich. Ausschlaggebend für den Studienort Marburg war neben der bereits bekannten Umgebung, dass ich mit meiner Freundin zusammenziehen wollte, die ebenfalls plante in Marburg zu studieren. Im August bezogen wir eine gemeinsame Wohnung im Zentrum Marburgs.
Lernen unter Sehenden: Eine Premiere
Mitte Oktober besuchte ich dann meine erste Lehrveranstaltung, das Seminar Morphologie. Dort beschäftigten wir uns mit der Struktur von Wörtern und deren Aufbau. Ich war ziemlich aufgeregt, lernte ich doch zum ersten Mal gemeinsam mit sehenden Kommilitonen. Mir wurde aber schon in den ersten Semesterwochen klar, dass der Bachelor-Studiengang Sprache und Kommunikation (SpruK) doch sehr visuell ausgerichtet ist. Das zeigte sich unter anderem daran, dass die Kurse Linguistik I und Phonetik mit dem Internationalen Phonetischen Alphabet (kurz IPA) arbeiten. Dies ist eine Sammlung von Zeichen, mit deren Hilfe die Laute aller menschlichen Sprachen nahezu genau beschrieben und notiert werden können. Dieses Alphabet ist, zumindest nach meinen damaligen Informationen, für blinde Menschen nicht darstellbar. Ich hatte zwar sehr engagierte Dozenten, doch hatten sie für dieses Problem auch keine Lösung.
Da dieser Studiengang auch Fremdsprachenmodule enthielt, entschloss ich mich dazu, Katalanisch zu wählen. In der Schule hatte ich schon Englisch, Französisch und Latein gelernt und ich wollte sehr gerne in eine weitere Sprache reinschnuppern. Katalanisch gehört zur romanischen Sprachfamilie und wird unter anderem in der spanischen Region Katalonien und Andorra gesprochen. Doch auch hier zeigte sich schnell, dass der Dozent nicht auf die Arbeit mit schlecht sehenden Studierenden eingestellt war. Nach einigen doch recht ernüchternden Seminarsitzungen entschloss ich mich den Kurs nicht weiter zu besuchen.
Nach einem Gespräch mit der Studienberatung entschied ich mich, zum Sommersemester 2015 den Studiengang Deutsche Sprache und Literatur (Germanistik) zu belegen. Da ich gerne lese, kam mir der Wechsel sehr entgegen. Außerdem hatte es den Vorteil, dass ich mir im Wintersemester absolvierte Prüfungen im Modul Deutsche Sprache für den Studiengang Germanistik anrechnen lassen konnte und somit das erste Semester nicht ganz umsonst war.
Relativ schnell wurde mir klar, dass ich diesmal mein „Traumstudium“ gefunden hatte. Ich belegte neben dem zweiten Teil „Einführung in die Linguistik“ Kurse zur Einführung in die neuere Deutsche Literatur. Aber auch das Praxisseminar „Kritiken schreiben im 21. Jahrhundert“ interessierte mich sehr. Dort lernen die Studierenden, wie professionelle Buchrezensionen, die im Feuilleton großer renommierter Tageszeitungen erscheinen, verfasst werden.
Bei allem Spaß an den Lerninhalten des Studiums war es jedoch schwierig für mich, mit Kommilitonen über mehrere Semester hinweg in Kontakt zu bleiben. Das lag auch daran, dass die angebotenen Module für die unterschiedlichsten Studiengänge geöffnet waren. So saßen in einem Kurs teilweise Studierende aus fünf unterschiedlichen Studiengängen zusammen.
„Und was macht man mit einem Germanistik-Abschluss?“
Natürlich überlegte ich mir schon während meines Studiums, was ich später damit anfangen könnte. Da für dieses Fach keine Zulassungsbeschränkung gilt, studieren es sehr viele junge Menschen. Manche auch einfach nur, um überhaupt etwas zu machen. Das war aber bei mir nicht der Fall. Anfangs war ich ein „Überzeugungstäter“. Das sechswöchige Pflichtpraktikum konnte ich Anfang 2016 beim Fachdienst Kultur der Stadt Marburg absolvieren. Die Arbeit dort machte mir sehr viel Spaß und der Umgang mit den Kollegen war immer sehr herzlich und freundlich. Unter anderem betreute der Fachdienst eine Ausstellung zu 100 Jahre blista, an deren Entstehung ich teilhaben durfte. Ich konnte mir nach dieser positiven Erfahrung durchaus vorstellen, beruflich in die Richtung Projektmanagement zu gehen. Im Sommersemester 2017 schloss ich mein Studium mit dem Bachelor innerhalb der Regelstudienzeit ab. Dem Bachelor sollte nun ein Masterstudium in Deutsche Literatur folgen, oder doch nicht?
Über die deutsche Literatur zur Steuer: Kann das gutgehen?
Im Oktober 2017 nahm ich zunächst das Masterstudium Deutsche Literatur auf. Da die Stimmen im Laufe meines Bachelorstudiums jedoch immer lauter wurden, die sagten, dass es nicht einfach sei, mit dem Abschluss eines Germanistik- bzw. literaturwissenschaftlichen Studiums eine Anstellung in welchen Bereichen auch immer zu finden, wurde ich unsicher und begann nebenher nach einer Alternative für meine berufliche Zukunft zu suchen. Natürlich sollte mir ein Job auch Spaß machen, aber für mich als blinder Mensch ist ein krisensicherer Arbeitsplatz ebenso wichtig und gegen eine gute Bezahlung hätte ich selbstredend auch nichts einzuwenden. Da mein Bruder 2016 die Ausbildung zum Regierungssekretär an der Landesfinanzschule Bayern gemacht hatte, empfahl er mir, mich auch für eine Beamtenlaufbahn zu bewerben.
Eine Nachricht mit zwei Seiten
So schrieb ich im Juli 2017 den Test für das Auswahlverfahren für das Einstellungsjahr 2018 für den mittleren Dienst. Hierbei ging es um Fragen zu Allgemeinbildung sowie logischem und mathematischem Denken, die innerhalb von vier Stunden zu beantworten waren. Nach einigen Monaten erhielt ich dann das Ergebnis, das sich aus der Note des Tests und den Schulnoten des Realschulabschlusszeugnisses der Fächer Deutsch und Mathematik zusammensetzte. Auf Basis dieser Endnote wird dann eine bayernweite Liste erstellt, nach der die staatlichen Behörden Bewerber/innen zu Vorstellungsgesprächen einladen. Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche und erhielt in der Finanzverwaltung schließlich eine Zusage. Die Nachricht hatte zwei Seiten: Auf der einen war ich „stolz“, auf Anhieb eine Einstellungszusage bekommen zu haben. Auf der anderen Seite hieß das natürlich, meine bisherige Umgebung Marburg, die ich seit zehn Jahren kannte, zu verlassen, mein Studium aufzugeben und eine Fernbeziehung zu führen. Damals hatte ich - warum auch immer - nicht im Blick, dass ich auch die Möglichkeit gehabt hätte, eine Beamtenlaufbahn beim Land Hessen anzustreben. Während der Zeit der Ungewissheit nach dem Einstellungstest 2017 wollte ich es allerdings noch einmal wissen und so bewarb ich mich auch auf ein beim Landkreis Gießen ausgeschriebenes zweijähriges Volontariat in Public Relations, das im März 2018 beginnen sollte. Man lud mich zwar zum Vorstellungsgespräch ein, doch aufgrund der Tatsache, dass ich keinen Führerschein besaß, wurde ich nicht in die engere Auswahl einbezogen. Ich wies die Verantwortlichen zwar auf die Möglichkeit der Arbeitsassistenz hin, jedoch ohne Erfolg.
Der Tag meiner Einstellung in der bayerischen Finanzverwaltung rückte nun immer näher. Die Tätigkeit in staatlichen Behörden und Einrichtungen bietet neben der „Jobgarantie“ auch den Vorteil, dass sich der Arbeitgeber um die Beschaffung der Hilfsmittel kümmert. So musste ich nur angeben, dass ich einen Computer mit Sprachausgabe, Braillezeile und Scanner benötige. Ich nahm auch die Möglichkeit wahr, meinen Dienst zwei Wochen vor dem eigentlichen Ausbildungsbeginn anzutreten, um die Hilfsmittel und die spezielle Programmoberfläche der Finanzverwaltung (UNIFA) kennenzulernen.
Am ersten Septembermontag 2018 traf ich auf die sieben anderen Auszubildenden, die im Finanzamt Gunzenhausen zu Steuersekretären ausgebildet werden sollten. Nachdem das anfängliche Sich-Beschnuppern vorbei war, verstanden wir uns recht gut. Nach einer Woche im Finanzamt kamen wir zu unserem ersten fachtheoretischen Ausbildungsabschnitt an die Landesfinanzschule Bayern nach Ansbach und teilten uns eine Klasse mit Anwärtern aus dem Finanzamt Nürnberg-Süd. Wir sind im gesamten Einstellungsjahrgang 2018 mit 17 Schülern die kleinste Klasse, haben wir doch neben mir als gesetzlich blind geltendem Anwärter noch zwei sehbehinderte Azubis.
Trotz unseres guten Klassenklimas traten in den ersten Tagen des Ausbildungsabschnittes für mich die ersten Schwierigkeiten auf
In der Steuerverwaltung wird mit Steuergesetzen gearbeitet, die die normalsehenden Kollegen in den ersten Ausbildungstagen in Buchform erhalten. Bei mir gestaltete sich dies etwas schwieriger, da ich die Gesetzestexte in digitaler Form benötigte und diese nicht oder nicht ausreichend barrierefrei waren. Da wir in den Büchern Kommentierungen, das heißt Verweise auf andere Paragraphen, anbringen müssen, brauchte ich die Texte als Word-Dokumente. Dies war jedoch schwieriger als gedacht, da die Dateien erst mühsam in eine für Screenreader lesbare Form umgearbeitet werden mussten. Es ist der tatkräftigen Unterstützung einiger Mitarbeiter der Landesfinanzschule zu verdanken, dass ich die Dokumente nicht selbst umarbeiten musste. So konnte ich recht gut mit den anderen Azubis mithalten. Doch nicht nur die zu Beginn ungenügende Barrierefreiheit der Gesetze war ein Thema. Es stellte sich schnell heraus, dass ich im Unterricht auf die Unterstützung einer Assistenzkraft angewiesen war. Da der erste Theorieabschnitt aber nur drei Monate dauerte und es in dieser Zeit recht schwierig war, eine Assistenzkraft zu bekommen, übernahmen in den ersten Wochen Mitarbeiter der Landesfinanzschule diese Aufgabe. Nachdem Mitte Oktober unverhofft diese Tätigkeit durch eine Bewerberin der Lebenshilfe übernommen wurde, konnte unsere Klasse den versäumten Unterrichtsstoff aber trotzdem nur mit zusätzlichen Unterrichtsstunden am Nachmittag aufholen, da wir einfach länger für das Kommentieren der Gesetze brauchten. Dieser Umstand führte zwar zu einigem Unmut innerhalb der Klassengemeinschaft, aber den Ausbildungsabschnitt konnten wir alle trotzdem mit guten Noten beenden.
Das Jahr 2019 begann für mich ausbildungstechnisch sehr gut. Mir wurde eine kompetente Arbeitsassistenz gestellt, die nun bis zum Ende der Ausbildung mit mir zusammenarbeiten wird. Aufgrund der Vorerfahrungen, die sie mitbrachte, konnte sie mich vor allem im Fach Datenverarbeitung, das extrem auf Schnelligkeit ausgerichtet ist, unterstützen.
Nach der hoffentlich bestandenen Abschlussprüfung im Sommer 2020 führe ich die Berufsbezeichnung „Finanzwirt“. Nach dem Ausbildungsende werde ich einem Sachgebiet als Bearbeiter zugeteilt und darf unter anderem andere Auszubildende in die dortigen Tätigkeiten einweisen.
Trotz meiner Ausbildung in Bayern habe ich den Kontakt zu meiner in Marburg gebliebenen Freundin nicht verloren. Wir besuchen uns an den Wochenenden gegenseitig. Unsere Beziehung ist dadurch noch fester geworden. So haben wir entschieden, uns im Sommer 2019 in Marburg das Jawort zu geben.