Thesen zur Inklusion
Inklusion: Fortschritt oder Feigenblatt?
Ein Statement von Uwe Boysen, Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) bei der Abschlussdiskussion:
Der Begriff „Inklusion“ hat sich in unser aller Leben breit gemacht. Man begegnet ihm inzwischen sogar in verschiedenen Gesetzen, so z. B. – jedenfalls sinngemäß – in Art. 7 der Schleswig-Holsteinischen Verfassung, wo es heißt: „Das Land setzt sich für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und ihre gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ein.“ Weitere Beispiele sind das Inklusionsgesetz NRW und die dazu gehörige Ersatzschulfinanzierungsverordnung, das Gesetz zum Ausgleich von kommunalen Aufwendungen für die schulische Inklusion von Baden-Württemberg oder die Hessische „Förderrichtlinie Berufsausbildung von Benachteiligten“. In ihr heißt es: „Unternehmen, die auf ihre Maßnahmen zur Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen und/oder Behinderungen hinweisen, können bevorzugt gefördert werden.“
Der Begriff „Inklusion“ ist, wie schon dieses letzte Beispiel zeigt, bei Weitem nicht auf die schulische Bildung beschränkt, was man bei den ersten öffentlichen Debatten noch mutmaßen konnte. Denn, diese Frage sei erlaubt: Was nützt schulische Inklusion, wenn sie nicht im Anschluss, im Berufsleben und in der Gesellschaft, fortgesetzt und vertieft werden kann? Auch dazu gibt es glücklicherweise inzwischen wegweisende Projekte und Aktivitäten, nicht zuletzt von blista und DVBS.
Doch soll hier die Position des DVBS und der Selbsthilfe zu schulischer Inklusion im Vordergrund stehen. Seit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahre 2006, noch intensiver aber seit ihrem Inkrafttreten in Deutschland 2009, beschäftigen wir uns mit diesem Thema, und zwar – durchaus selbstbewusst – als Experten in eigener Sache; denn unsere Mitglieder sind es, die die Vor- und Nachteile von Inklusion am eigenen Leibe erfahren oder erfahren haben und damit am besten über diese Punkte Auskunft geben können.
Einige Thesen
Anknüpfend an den letzten Punkt möchte ich formulieren: Es wird nach wie vor viel zu sehr von denjenigen über Inklusion gesprochen und debattiert, die von ihr nicht unmittelbar betroffen sind! Das soll nicht heißen, dass Pädagogen, Eltern und andere Beteiligte sich eines Urteils enthalten müssten. Sie sind und bleiben notwendige Gesprächspartner im Prozess der Inklusion. Neben ihnen kommen aber die unmittelbar Betroffenen mit der von ihnen erfahrenen und vielleicht auch erlittenen Lebensrealität viel zu wenig zu Wort. Tendenziell besteht so die Gefahr, behinderte Menschen wieder in eine Objektrolle zu drängen. „Man“ spricht über Behinderte, nicht mit ihnen! Dass hier heute ein anderes Signal gesetzt worden ist, begrüße ich ausdrücklich!
Das Motto dieser Konferenz muss als Aufforderung begriffen und gelebt werden. Eine Fast-Food-Inklusion darf es nicht geben. Sie ist unverdaulich und schädlich. Sie schadet den betroffenen Menschen (und hier beziehe ich Eltern und Pädagogen bewusst mit ein) und diskreditiert auf lange Sicht auch den Begriff der Inklusion selbst.
Wer glaubt, Inklusion mit finanziellen Argumenten rechtfertigen zu können oder zu müssen, befindet sich auf einem Holzweg. Ohne zusätzliche staatliche Bemühungen finanzieller Art, zugeschnitten auf den individuellen Bedarf der Schülerinnen und Schüler, gerät man in Gefahr, den Anspruch dieser Menschen auf qualitativ hochwertige Bildung zu verfehlen. Das bedeutet zum Beispiel, keinen Verzicht auf Sportunterricht oder künstlerische Fächer zuzulassen und – ganz zentral – Erlernen sehbehinderten- und blindenspezifischer Techniken. Wem diese Möglichkeiten verschlossen bleiben, der ist nicht inkludiert!
Daraus folgt:
- Es muss ein Nebeneinander von Inklusions- und Förderschule geben. Die beiden müssen ohne größere Schwierigkeiten gegeneinander durchlässig sein, Wechsel verhältnismäßig leicht ermöglichen und sich nicht gegeneinander abschotten.
- Es darf nicht sein, dass der Sehbehinderten- und Blindenpädagogik unter dem Vorwand von Inklusion keine geeigneten universitären Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen.
Mein Appell:
Betrachten wir Inklusion als Prozess. Sie ist etwas Gutes, aber schwierig zu machen. Wer ihr eine Chance geben will, der muss sich vernetzen, darf keine Angst vor Veränderungen haben, aber auch klar benennen, wo sie unter Umständen zur „Desinklusion“ führt.