Zeitenwende – vom Leben nach der blista

Physikstudium
Von Nord nach Süd
Pascal Tödter, Abitur 2019 | Schon als Kind entwickelte ich eine Leidenschaft für technische und naturwissenschaftliche Dinge. Zu dieser Zeit war ich noch sehbehindert und konnte mich ohne Blindenstock gut orientieren, doch ob dies so bleiben würde, wusste damals keiner. So lernte ich in der Grundschule für Blinde und Sehbehinderte Punktschrift und hatte Blindenlangstocktraining. Dies sollte sich bald als nützlich erweisen, denn nach meinem Wechsel an eine Gesamtschule mit Gymnasialzweig für Sehende erblindete ich im siebten Schuljahr. Seitdem sehe ich nur noch hell und dunkel.
Während meiner Regelschulzeit in der Mittelstufe strich die Stadt Hamburg immer mehr die Gelder für sonderpädagogisches Fachpersonal. Dies war aber aufgrund meiner tollen Lehrkräfte kein großes Problem. Leider bot meine Schule in der Oberstufe kein Profil mit Fach Physik an (für die Hessen: Es gab keinen Leistungskurs Physik). Ich entschied mich daher zur 11. Klasse an die blista zu wechseln, wo auch blinde Schüler*innen viel in den naturwissenschaftlichen Fächern machen können, wie z.B. Versuche durchführen.
Während meiner Oberstufenzeit an der blista haben mir der Biologie-, Chemie-, Physik- und natürlich der Sportunterricht viel Spaß gemacht. Die vielen Sportmöglichkeiten und die Abende in den Kneipen der Oberstadt haben Marburg für mich zu einer unvergesslichen Zeit gemacht.
Ich wusste schon während meiner Schulzeit, dass ich etwas mit Technik oder Naturwissenschaften studieren wollte. Dafür gibt es zwei Universitäten in Deutschland, die blinde Studierende während des Studiums verstärkt unterstützen: das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) oder die TU Dresden. Naja, und dann blieb noch die Frage, welcher technische oder naturwissenschaftliche Studiengang es werden sollte. Im Maschinenbau hat man viel mit Konstruktionszeichnungen zu tun, in Biologie und Chemie wäre die Arbeit im Labor schwierig und ein reines Informatik- oder Mathestudium klang für mich nicht so verlockend. Somit blieb durch dieses Ausschlussverfahren Physik – mein Top 2 Wunsch.
Karlsruhe - eine neue Stadt
Eine neue Stadt bedeutet, neue Wege lernen zu müssen. Eigentlich kein Problem für mich, da ich aus einer Großstadt komme. Allerdings konnte ich erst am Tag vor dem Beginn meiner Vorkurse (Vorbereitungskurse für das Studium) anreisen und ins Wohnheim einziehen, um von dort die Wege für die nächsten Tage und Wochen zu üben. Das Ganze wurde dadurch zusätzlich erschwert, dass ich einen Tag vorher mit der Marburger Blindenfußballmannschaft Meister geworden bin und somit verkatert und müde die Wege üben durfte.
Sehr geholfen bei der Orientierung hat mir damals die App „My Way Lite“, mit der man Wegpunkte markieren und sie dann später mithilfe der App ablaufen kann. Für den Anfang hatte ich mich zunächst für ein zentral gelegenes Wohnheim entschieden, da mir eine Wohngemeinschaftssuche von Hamburg aus zu schwierig erschien und ich zunächst die Stadt kennenlernen wollte. Nach eineinhalb Jahren Wohnheim bin ich dann mit einem Freund aus Marburg in eine 7er-Wohngemeinschaft in einem Vorort von Karlsruhe mit Straßenbahnanbindung gezogen. Leider stellte sich schnell heraus, dass die Taktung der Straßenbahn nicht meinen Bedürfnissen entsprach. Doch eine WG in einer besseren Lage zu finden, erwies sich als gar nicht so einfach. Wenn ich bei „WG-Gesucht“, einer Plattform für die Wohngemeinschaftssuche von Studierenden, angegeben habe, dass ich blind bin, habe ich recht selten eine Einladung zum WG-Casting erhalten. Bei demselben Bewerbungstext ohne das Hineinschreiben, dass ich blind bin, habe ich auf 90 Prozent der Anfragen eine Einladung erhalten, aber wurde nie angenommen. Umgekehrt allerdings, wenn ich ein freies Zimmer in meiner Wohngemeinschaft anbot, war meine Blindheit für niemanden der Bewerber ein Problem. Soviel zu diesem Thema.
Mit einer neuen Wohngemeinschaft hat es dann doch noch über einen kleinen Umweg geklappt. Um Laufen als Sport ausüben zu können, brauche ich Begleitläufer* innen, deshalb habe ich mich beim Guide Netzwerk Deutschland angemeldet und so eine Freundin zum Laufen kennengelernt, bei der durch Zufall auch gerade ein WG-Zimmer frei wurde. Ich kann euch ein WG-Leben nur empfehlen; man lernt viel für das Leben, aber vor allem vereinsamt man nicht und hat mega viel Spaß.
Tausche immer Nummern aus:
Vor dem eigentlichen Semesterstart im Oktober, der mit der obligatorischen Orientierungsphase beginnt, habe ich noch Anfang September an zwei- bzw. dreiwöchigen Vorkursen für Mathe, Informatik und Physik teilgenommen. An diesen Vorkursen teilzunehmen ist freiwillig, aber es ist sehr zu empfehlen, denn so lernt man schnell neue Leute kennen und kann versuchen, eine Lerngruppe zu finden, mit der man auch menschlich harmoniert. Man lernt dabei gleichzeitig ganz entspannt die Uni-Strukturen kennen und kann sich auch mit den Leuten bekannt machen, die die Materialien für die Seminare barrierefrei aufbereiten, bevor es dann ans Eingemachte geht. Beim Physikvorkurs waren überwiegend Ingenieur*innen und ich habe mich schnell einer Gruppe von sieben Leuten anschließen können, mit denen ich in den ersten Wochen fast täglich Spieleabende gemacht und dabei viele Orte in der Stadt kennengelernt habe, wobei die anderen mit dem Fahrrad gefahren sind und ich alleine mittels Straßenbahn und Navigationsapp dorthin gelaufen bin – so lernt man auch eine Stadt kennen. Der Mathevorkurs hingegen war nur für Physiker*innen und somit war das die Gelegenheit, Leute aus meinem Studiengang kennenzulernen. Aber im Gegensatz zu Ingenieur*innen sind Physikstudierende nicht so die extrovertierten Menschen. In den drei Wochen habe ich nur eine Person kennengelernt, mit der ich auch neben dem Studium etwas gemacht habe. Besser wurde es dann in der Orientierungswoche, in der es viele Aktivitäten gab. Was in dieser Phase echt nervig war, war allen zu erklären, dass man auch als blinder Mensch Sport machen, kochen, putzen – sprich selbständig existieren kann.
Die Leute, die ich in dieser Zeit kennengelernt habe, sind bis heute enge Freunde, mit denen ich tagtäglich viel unternehme. Das Wichtigste in dieser Zeit war, immer Nummern mit Leuten auszutauschen, die man neu kennenlernt und nicht aufzugeben. Diese Freund*innen behält man über das ganze Studium, geht mit ihnen in die Mensa, lernt und verbringt die Freizeit zusammen.
Kannst du mir das übertragen?
Leider besteht das Uni-Leben nicht nur aus der Freizeit mit Freund*innen, sondern auch aus Vorlesungen und Übungsblättern für das Studium. Wie bereits erwähnt, habe ich mich für Karlsruhe entschieden, da dort die Studiengänge unterstützt werden. Wie kann man sich das vorstellen? Es gibt dort ein Institut für blinde und sehbehinderte Studierende (ACCESS @ KIT), das zum einen im Bereich Barrierefreiheit forscht, aber auch die Vorlesungen für die Studierenden aufbereitet, sodass die Materialien barrierefrei sind. Bei mir werden die Vorlesungen digitalisiert und ins Word-Format gepackt. Für Bilder werden entweder Bildbeschreibungen oder taktile Grafiken erstellt und die Formeln werden in LaTeX-Notation übertragen. Zu Beginn des Semesters schreibt man die Professor*innen an, fragt nach den Materialien und nach einer Buchempfehlung, denn das ACCESS @ KIT kann nicht so viel auf einmal übertragen, die Kapazitäten sind begrenzt. Anschließend leitet man diese Informationen dem ACCESS @ KIT weiter und diese übertragen diese. Um mehr muss man sich nicht kümmern, außer mal nachzuhaken, wenn die Sachen nicht kommen. Für mich ist dies viel entspannter, als wenn ich eine Studienassistenz gehabt hätte, da es organisatorisch viel weniger Aufwand ist. Die Kosten für das Übertragen der Materialien übernimmt die Uni und es muss auch kein Antrag gestellt werden. Studienassistenz kann natürlich zusätzlich beantragt werden und würde auch bestimmt nicht schaden, aber ich bin mit dem ACCESS @ KIT und Freund*innen gut zurechtgekommen.
Das Institut hat auch einen Raum, in dem seheingeschränkte Studierende arbeiten können. Dieser ist mit Computern, 40er-, 80er-Braillezeilen, Surface Studios und den Sprachausgaben ausgestattet, mit denen man gerne arbeitet. In diesem Raum werden auch die Klausuren geschrieben.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg
Das Studium selbst hat es in sich und verlangt auf jeden Fall alles ab, vor allem die eigene Frustrationstoleranz und Geduld. Ich selbst habe die Vorlesungen nicht besucht, da ich den Tafelanschrieb nicht lesen konnte. Selbst wenn ich das Skript hatte, war die Vorlesung trotzdem zu schnell und spätestens bei Abbildungen ist man raus. Stattdessen habe ich viel mit Büchern gelernt und Übungsblätter immer mit Freunden gemacht, die dann Sachen schnell im Skript oder im Internet nachschlagen konnten. Alleine hätte ich das Studium nicht geschafft, aber das gilt auch für die meisten Sehenden.
Die Klausuren habe ich schriftlich geschrieben, außer sie hatten zu viele Grafiken. Aber ich finde auch im Nachhinein, dass schriftliche Prüfungen sinnvoll sind, da man das Rechnen und Lösen der Aufgaben so besser lernt. Aber hier ein Tipp, der mir damals sehr geholfen hätte: Sobald ihr Klausuren mit Formeln oder Abbildungen habt, beantragt einen Nachteilsausgleich von 100 Prozent, das kommt am KIT einfach über die Behindertenbeauftragte und in der Physik auch durch. Diese Physikklausuren sind schwer und es kann schnell passieren, dass man auch mal Pech hat und gerade eine besonders schwere Aufgabenstellung erwischt oder einfach das Falsche gelernt oder einen Blackout hat; gerade im ersten Semester, wenn alles neu ist. Wenn man dann noch zu wenig Zeit hat, kann es schnell passieren, dass man nach zwei schriftlichen Fehlversuchen in die mündliche Nachprüfung kommt. Fällt man auch hier durch, dann war´s das mit dem Physikstudium.
In der Physik gibt es vier Praktika, dabei handelt es sich um Versuchsdurchführungen an der Uni. Es ist kein Praktikum im herkömmlichen Sinn, sondern man hat für ein Semester wöchentlich einen Versuchstag. Die Praktika macht man in Zweierteams. Bei jedem Versuchstag bereitet man den Versuch mit einer Vorbereitungsmappe vor und dann werden an der Uni die Versuche durchgeführt. Die Versuche sind häufig nicht für blinde Studierende alleine durchführbar, denn die Aufgabe besteht darin, die gemessenen Werte aufzuschreiben und man hat dann eine Woche Zeit ein Protokoll zu verfassen, was als blinde Person auch nicht so ideal ist, da man den Versuch ja nicht selbst durchgeführt hat. Die Bachelorarbeit hingegen war tatsächlich super, auch deswegen, weil ich einen netten Betreuer hatte. Meine Aufgabe war es, für ein physikalisches Problem mehrere neuronale Netze zu trainieren und zu schauen, welches die besten Ergebnisse ausgibt. Bei der Bachelorarbeit kann man auch einen Nachteilsausgleich beantragen, den habe ich aber gar nicht gebraucht. Von den Studierenden, die den Studiengang beginnen, machen 50 Prozent ihren Bachelor, der Rest bricht aus den unterschiedlichsten Gründen ab oder besteht die Klausuren nicht. Wer den Bachelor schafft, hat sehr gute Chancen auch den Master zu schaffen. Der Masterstudiengang besteht aus zwei Semestern mit Vorlesungen und anschließenden mündlichen Prüfungen am Ende der beiden Semester, die es zu bestehen gilt. Danach hat man zwei Semester Zeit für seine Masterarbeit – auch hier gibt es die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs. Eine Sache ist mir noch wichtig zu sagen: Ja, das Studium ist alles, aber nicht leicht. Für sehende Studierende nicht und für blinde Studierende noch viel weniger. Aber zum einen muss man kein Überflieger sein, ich bin auch keiner, und zum anderen wird mit jeder weiteren studierenden, blinden Person der Weg einfacher, da immer mehr Materialien barrierefrei aufbereitet werden. Außerdem merke ich, dass das Studium mit KIs barrierefreier wird. Es ist möglich, durch KIs Bildbeschreibungen anzufertigen oder PDF-Dateien und Internetseiten lesbar zu machen, was vor allem für Formeln gilt.
Jetzt bin ich im zweiten Mastersemester angekommen und sehr optimistisch, dass ich das Studium schaffen kann. Was ich nach dem Master machen möchte bzw. kann, weiß ich noch nicht. Das Berufsfeld, in das man einsteigen kann, ist sehr breit und ich werde mal schauen, wo mich die Zukunft hinführt.