Ein halbes Jahr für Europa – ein Auslandspraktikum im Europaparlament
Alexander Tyssen | Im Jahr 2004 kam ich zur fünften Klasse an die blista – 2013 machte ich dort mein Abitur. Nach bald zwanzig Jahren nach der Einschulung und elf Jahren nach dem Abitur ist es immer interessant, darauf zurückzublicken, was seit dem Abitur besonders schön war. Von 2013 bis 2019 absolvierte ich das Studium der Geschichte in Hamburg, welches mir sehr viel Spaß machte. Nach meinem Bachelorabschluss im Frühjahr 2017 reiste ich im Sommer des gleichen Jahres mit meinem Bruder für sieben Wochen kreuz und quer durch China. Zu den Zielen gehörten beispielsweise Xi’an, die Stadt der Terrakottaarmee und Zhangjiajie, die Landschaft der fliegenden Felsen aus „Avatar“. Meinen Masterabschluss machte ich 2019 – ein halbes Jahr vor Corona. Auch blieb ich dem Wassersport nach der Zeit an der blista stets verbunden. Bei Herrn Karges lernte ich 2008 die Faszination des Paddelns auf dem Edersee und danach auf der Lahn kennen und seit 2014 war ich auch bei mir in Hamburg in einem Kajak-Verein aktiv. Das Windsurfen hatte ich bei Herrn Arnold und Joseph Berland 2012 kennengelernt und danach bin ich in Kroatien und in Griechenland fast jedes Mal surfen gegangen – solange der Wind passte. Außerdem bin ich seit 2021 Teil des BAT Sailing Teams, einem Segel-Regattateam für Menschen mit und ohne Sehbehinderung, welches dieses Jahr zum vierten Mal zur Kieler Woche fuhr. Aber besonders spannend war die zweite Hälfte des Jahres 2023 und Anfang 2024. Denn ich absolvierte das Schuman- Traineeprogramm des Europaparlaments in Brüssel.
Was ist das Schuman-Traineeprogramm?
Das Schuman-Traineeprogramm ist ein Praktikumsformat für Uni-Absolvent*innen, in dem sie für ein halbes Jahr im Europaparlament in Brüssel oder in Luxemburg arbeiten können. Die meisten Teilnehmenden sind Master-Absolvent* innen, aber es gibt auch Teilnehmende, die das Praktikum in der Phase zwischen der Bachelorarbeit und dem Master-Studium machen. Dabei kann man bei der Bewerbung aus verschiedenen Abteilungen wählen, so etwa im Bereich Medienbetreuung, beim Protokoll (Veranstaltungen) oder – wie in meinem Fall – beim Wissenschaftlichen Dienst. Die meisten absolvieren ihr Praktikum in Brüssel. Dies liegt daran, dass sich der Hauptsitz des Europaparlaments dort befindet. In Straßburg finden einmal pro Monat die Abstimmungen zu den Gesetzen statt, die Ausschusssitzungen der Parteien finden allerdings in Brüssel statt. Ich hatte mich im Mai 2023 für den Wissenschaftlichen Dienst und für zwei weitere Positionen beworben. Die Sehbehinderung wurde in der Bewerbung insbesondere für die Arbeitsplatzausstattung (z.B. aufgrund Quotenregelungen) berücksichtigt, sodass Ende Juli die Zusage kam.
Da stellte sich die Frage, wo man in Brüssel wohnen soll. Ich bin dafür Anfang August für die WG-Suche extra nach Brüssel gefahren, da ich eine WG-Besichtigung in Person viel besser als eine Online- Besichtigung fand.
Besonders schön fand ich, dass nach zehn Jahren sehr viel von meinen Französisch- Kenntnissen wieder hervorkamen, denn ich lernte an der blista von der siebten Klasse an Französisch. Ich wurde von meinen Lehrkräften an der blista, Frau Haug-Gottschalk und Herrn Rust, im Französischen sehr gefördert, denn ich ging auf Austauschfahrten nach Angers in Frankreich (welche meine schönste Kursfahrt insgesamt war) und in die Wallonie in Belgien. Häufig wurde ich auch aus dem Unterricht geholt, wenn eine französischsprachige Gruppe an die blista kam, um ihnen die Schule zu zeigen. Französisch lernte ich bis zum Abitur – im Leistungskurs in Kooperation mit der Martin-Luther-Schule.
Aber nun wieder zurück zur WG-Suche in Brüssel: Am Ende fand ich eine WG im Brüsseler Stadtteil Laeken in unmittelbarer Nachbarschaft zum Atomium. Vom Atomium braucht man etwa 40 min. mit der U-Bahn zum Europaparlament. Die Brüsseler sagten immer, dass es sehr weit sei, allerdings sind in Hamburg 40 min. Arbeitsweg noch recht kurz. Der große Vorteil an Laeken war jedoch, dass es sich um einen grünen Stadtteil handelt, weil sich dort neben dem Atomium auch der große königliche Park befindet. In meinen Augen macht es immer Sinn, zwei Wochen vor Beginn eines Auslandspraktikums in der Stadt anzukommen. Denn für das Thema Orientierung ist es immer sinnvoll, genügend Zeit mitzubringen. Da stellen sich die Fragen, wie man von A nach B kommt, welches die wichtigsten Umsteigepunkte der U-Bahn sind, wo sich der nächste Supermarkt befindet und wo man gut essen kann. Und auch das touristische Programm kam bei mir nicht zu kurz – so ging es etwa in die Innenstadt zur Grand Place, dem Manneken Pis oder in den Parc du Cinquantenaire mit seinem Triumphbogen, der wie eine Mischung aus Brandenburger Tor und Pariser Arc de Triomphe aussieht.
Meine Projekte während des Schuman-Traineeprogramms+
Anfang Oktober war es dann so weit. Nun ging mein Praktikum im Europaparlament im Wissenschaftlichen Dienst los. Die ersten Wochen waren geprägt von vielen Einführungsveranstaltungen, die online, im kleinen Rahmen des Wissenschaftlichen Dienstes oder im großen Rahmen im Brüsseler Plenarsaal stattfanden. Hierbei wurde etwa die Arbeitsweise des Parlaments und – noch wichtiger – des Wissenschaftlichen Dienstes vorgestellt, dessen Publikationen sowohl für das Parlamentspublikum als auch für die interessierte Öffentlichkeit veröffentlicht werden. Dabei werden die Publikationen in Englisch verfasst, wobei hier kein akademisches Englisch gemeint ist, sondern ein Englisch, welches für die Parlamentarier* innen und für die Öffentlichkeit gut verständlich ist.
In meinem Fall waren die Hauptarbeitssprachen Englisch und Deutsch. Deutsch war deshalb in meinem Fall eine Hauptarbeitssprache, da ich am Projekt „What Europe does for me“ mitwirken sollte. Hierbei handelt es sich um ein Prestigeprojekt des Europaparlaments für die Europawahl, bei dem Wähler*innen zur Wahl motiviert werden sollen. Dabei werden etwa die Einflüsse der EU auf das alltägliche Leben und auf die Regionen dargestellt.
Mein Part lag in der Recherche zu EU-geförderten Projekten auf der Ebene deutscher Landkreise, die in kurzen Texten mit Verlinkungen vorgestellt werden. Die EU fördert Projekte im Wesentlichen aus drei großen Fördertöpfen. Mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) werden beispielsweise Geflüchtetenklassen oder Klassen für den Übergang von der Schule ins Berufsleben oder auch Projekte, bei denen Arbeitslose wieder ins Berufsleben finden, gefördert. Dagegen befasst sich der Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) etwa mit der Sanierung von Altstädten, mit Umweltprojekten (etwa bei Mooren) oder auch mit Forschungsprojekten. Für mich besonders spannend war allerdings das LEADER-Programm aus dem Landwirtschaftsfonds, mit dem Projekte lokaler Initiativen gefördert werden. Besonders gerne habe ich dabei Projekte aus den Bereichen Kultur und Tourismus ausgewählt, was etwa Museen oder überregionale Wanderwege umfasst. Am Ende hatte ich viele Landkreise im Augsburger Raum beschrieben. Für mich als jemand, der seit bald elf Jahren in Hamburg lebt, war es interessant, auf diese Art und Weise andere Regionen kennenzulernen (da der Norden schon abgearbeitet war). Damit nur Projekte ausgewählt werden, die erfolgreich sind, gehörte es für mich immer dazu, die Presse oder lokale Initiativen in die Recherche mit einzubinden – denn wer möchte ein Projekt sehen, welches am Ende doch nicht verwirklicht wurde? Mein zweites großes Projekt hing mit dem Holocaust-Gedenktag 2024 zusammen, welcher dieses Jahr am 25. Januar im Europaparlament begangen wurde. Hierzu verfasste ich für die Veröffentlichung „The Fragility of Freedom“ einen historischen Abriss zu den Themen, welche Personengruppen zur NS-Zeit verfolgt wurden, wie die Medien eingeschränkt wurden – und über den Missbrauch des Sports im Zuge der Olympischen Spiele 1936. Für mich war dies ein Punkt, der aktueller denn je ist - in Zeiten, wo große Sportereignisse zunehmend von autoritären Regimen benutzt werden. Von meiner Kollegin kam der zweite Teil der Veröffentlichung, in dem es um die aktuelle Situation von Juden, Sinti und Roma sowie anderer Gruppen geht. Die Veröffentlichung lag zum Holocaust- Gedenktag im Europaparlament online aus und ich besuchte auch die dortige Gedenkveranstaltung, in der eine Holocaust-Überlebende über ihre Kindheit im Warschauer Ghetto berichtete.
Eine Zeit in Brüssel ist nicht nur eine Zeit der Arbeit
Neben der Arbeit im Europaparlament nutzte ich die Zeit in Brüssel auch sehr viel für Reisen an den Wochenenden. Hierfür ist Brüssel ein sehr toller Standort, weil man in kurzer Zeit sehr viele unterschiedliche Länder mit der Bahn erreichen kann. Auch ist das Reisen in Belgien mit seiner flämischen und seiner wallonischen Kultur dank eines 10-Fahrten- Passes mit der Bahn recht günstig. So ging es in meiner Zeit in Brüssel zwei Mal an die Küste, einmal im Oktober nach Brügge mit seiner mittelalterlichen Altstadt. Im November ging es einmal nach Amsterdam und später im Monat nach Maastricht, um mit Sinterklaas die Weihnachtszeit einzuläuten. Das große Reisehighlight war zweifellos die Fahrt nach Straßburg, wo wir als Gruppe das dortige Europaparlament in der Sitzungswoche besichtigten, aber auch einen Weihnachtsmarktbummel unternahmen. Das einzige Land, welches ich innerhalb des halben Jahres ausgelassen hatte, war England – weil der Zug durch den Kanaltunnel viel zu teuer war. Auch habe ich Paris bewusst ausgelassen – schon in Amsterdam merkte ich, dass man für diese Stadt deutlich mehr Zeit braucht. Da war mir klar, dass man für Paris oder London noch deutlich mehr Zeit als ein Wochenende mitbringen müsste, sodass ich meinen Fokus bei meinen Reisen in Belgien beließ. Ein Auslandspraktikum ist natürlich auch eine tolle Gelegenheit, Menschen aus ganz Europa kennenzulernen, die man vielleicht später mal in der Heimat besuchen möchte. In meinem Büro waren wir zu sechst (vier aus Deutschland, ein Pole und ein Spanier) und ich lernte Leute aus Wien, Dänemark, Italien, Malta– und für mich besonders schön, weil es nahe an meiner Urlaubsregion ist – aus Thessaloniki kennen.
Ein anderes Hobby, welches sich neben dem Reisen in Brüssel ganz toll anbot, waren Fotos und die Videobearbeitung. Über meine Zeit in Brüssel führte ich ein Videotagebuch mit dem Titel „C’est ma vie à Bruxelles“ (So ist mein Leben in Brüssel), in dem ich über Brüssel und meine Ausflüge berichtete. Die Aufrufanzahl war mir dabei egal – ich wollte mit dem Videotagebuch meiner Familie und meinen Freunden zeigen, was ich in Belgien erlebte.
Welche Erkenntnisse nehme ich mit?
Als Fazit zur Zeit in Brüssel kann ich sagen, dass es sich wirklich sehr gelohnt hat. Die EU habe ich als einen Arbeitgeber erlebt, bei dem Vielfalt nicht nur eine Floskel ist, sondern wo sie auch wirklich gelebt wird. Aufgrund der Sehbehinderung konnte ich wichtige Hinweise für die anderen Kolleg*innen geben, etwa zur Lesbarkeit eines neuen Layouts oder im Falle von „What Europe does for me“ zur Frage, wie authentisch manche Punkte sind. Für mich ist die Vielfalt und die Offenheit einer der wichtigsten Punkte, um mich bei einem Arbeitgeber wohl zu fühlen. Besonders zu erwähnen ist natürlich auch, dass einem nach dem Praktikum deutlich mehr Türen offen stehen – sei es für die Arbeit für die Heimatstadt oder in internationalen Organisationen.
Das Reisen hat mir auch unglaublich viel Spaß gemacht – aber eines habe ich in Brüssel doch zu sehr vermisst. In Brüssel hätte ich meine Leidenschaft, den Wassersport, aufgeben müssen. Und zur Familie wäre es von Brüssel auch deutlich weiter gewesen.
Ich glaube, dass die Frage, was eine Stadt bieten muss, zu den wichtigsten Erkenntnissen eines Auslandspraktikums gehört. Und daher freute ich mich sehr, als es Mitte März wieder zurück ging – denn Hamburg ist und bleibt meine Perle!