Buchtipp - Brüderchen

Buchcover des Romans "Brüderchen" von Clara Dupont-Monod, weißer Hintergrund, darauf ein Distelzweig, der Schatten wirft.

Auf einem abgelegenen Hof in den französischen Cevennen kommt ein blindes, mehrfachbehindertes Kind zur Welt oder mit den Worten der Autorin des Romans „Brüderchen“ Clara Dupont-Monod: Ein unangepasstes Kind wird in einer Familie geboren. Zeitlebens wird das Brüderchen auf fremde Hilfe angewiesen sein. Der 10-jährige Bruder, ein Anführer und Wildfang, wandelt sich zu einem fürsorglichen und liebevollen Versorger und Beschützer, der mit seinem Brüderchen spielt, es wickelt und füttert. Bald schon verbindet ein Band von Zärtlichkeit die beiden. Er vernachlässigt die Schule und seine Freunde, geht völlig in der (Über)Fürsorge für sein behindertes Brüderchen auf, einem Menschlein, das außer zu schreien und unkontrolliert mit den blinden Augen zu rollen, zu kaum einer anderen körperlichen Regung imstande ist. Der Bruder wird schnell - zu schnell - erwachsen, ernst und introvertiert. Er nimmt nur noch mechanisch am Leben (der Anderen) teil, sein Interesse gilt nur noch dem Brüderchen und der Angst vor der Zerbrechlichkeit allen Lebens, das ihn umgibt: die Schwester ist wütend auf das Brüderchen, schließlich beansprucht es nun die ganze Aufmerksamkeit ihres älteren Bruders und ihrer Eltern, die doch zuvor ihr gegolten hatte. Ihre Versuche, das Brüderchen irgendwie zu akzeptieren oder ihrem Bruder bei der Pflege des Brüderchens zur Hand zu gehen, scheitern. Sie plagt ein schlechtes Gewissen ob ihrer negativen Gefühle dem Brüderchen gegenüber - sie findet es nutzlos, es stinkt und muffelt. Der Roman endet mit dem nachgeborenen Bruder, der das zu diesem Zeitpunkt längst verstorbene Brüderchen nur aus Erzählungen kennt und sich nun auf die „Suche“ nach ihm begibt. 

Keine Frage, der Roman ist flott zu lesen und regt zum Nachdenken an. Eine Familie. Die Geburt eines behinderten Kindes. Ein Vorher und ein ganz anderes Nachher. Der totale Bruch im Familiengefüge. Dem Brüderchen scheint sich nichts und niemand entziehen zu können. Selbst als es längst in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist und nur noch wenige Wochen im Jahr zuhause verbringt, selbst nach seinem Tod wirkt es weiter. Es formt die Persönlichkeit, den Charakter und die Beziehungen der Menschen um sich herum, sich seinem Einfluss zu entziehen scheint unmöglich. Das Brüderchen beeinflusst alles Werden der Anderen für alle Zeit. Seine Lebensuntüchtigkeit, seine Zerbrechlichkeit verleiht ihm dazu die Macht. Diese Totalität des Romans, dieser alleinige Fokus auf das Brüderchen als Ursprung für alles, was den anderen Protagonist*innen widerfährt, ihre Emotionen, ihre Handlungen, ihr Denken, ihre Lebenswege, führt für meinen Geschmack zu einer gewagten Gratwanderung zwischen einer genau beobachteten, verdichteten Darstellung einer möglichen Realität und eines stellenweise Abgleitens in eine allzu sentimentale dichterische Konstruktion. Aber wie gesagt, das ist Geschmackssache.  

Als Hörbuch in der Leselust-App der „Deutschen Blinden -Bibliothek“ (DBB). katalog.blista.de