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Das Foto zeigt eine Spielfigurenszene: Ein Ritter bekämpft einen Drachen, das schöne Fräulein beobachtet im Hintergrund

Heute: Der Traumjob****

Die Gedanken sind frei …*

Winfried Thiessen, Pädagogischer Mitarbeiter im Internat | Auf jeden Fall wolle sie etwas Kreatives machen, vielleicht Medienwissenschaften, Public Relations studieren oder in die Werbung gehen, was Interessantes, Abwechslungsreiches eben. Sie knabberte zärtlich an einer Vollkornbrotscheibe mit Magerquarkhügel, auf dem zwei Streifen rote Paprika lagerten, und nannte es – ihr Frühstück. Herr W favorisierte hingegen ­Deftigeres: zwei Spiegeleier mit Bacon, dazu American Sandwich. Er nippte an seinem Cappuccino, kaute auf einer Speckscheibe herum und ließ den Blick aus dem Küchenfenster der Wohngruppe hinaus über die kahlen Laubbäume wandern, die ihre knochigen Äste, wie nach einer Eingebung ­flehend, gen Himmel streckten. Keinesfalls würde sie den ganzen Tag im Büro hocken wollen – dann schon eher irgendwas draußen in der Natur. „So, so, Mutter Natur – Wind, Wetter und Abenteuer! Du bist doch so gut wie nie draußen. Ich dachte immer, du stehst mit der Natur und ihren Gewalten auf Kriegsfuß!“ „Ja, aber wenn du eine Sehbehinderung hast, wird dir immer nur irgendein Bürojob empfohlen. Weißt du, allein die Vorstellung, jeden Tag im Büro zu sitzen – das soll machen, wer will, ich jedenfalls nicht!“ Herr W überlegte. „Und was ist mit Menschen? Da ist Kreativität auch gefragt. Kitas werden gerade ausgebaut und Erzieherinnen gesucht.“ „Ich will doch nicht so enden wie du! Sitzt hier den ganzen Tag rum, trinkst deinen Kaffee, räumst jeden Scheiß hinter uns her … das ist doch kein Leben! Und – interessant geht anders!“

Herr W ignorierte die Würdigung seiner ­Arbeit und setzte nach. „Der Pflegebereich boomt doch auch gerade. In ein paar Jahren bin ich dann vielleicht dein Kunde, äh … obwohl … wenn ich es mir recht überlege …“ „Ja, ja“, brummelte sie, „da habe ich dann ­gerade die Ausbildung abgeschlossen und schon fährt ein Pflegeroboter mit einge­bautem Abrechnungsprogramm in einem selbstfahrenden Teslawagen bei Opa W vor und das war’s dann auch schon wieder mit dem Job! Aber egal, sag was du willst, ich studiere ’was Kreatives, ’was Interessantes eben – ich bin nicht so wie du! Ich will aus meinem Leben etwas machen – und komm’ mir jetzt nur nicht mit der alten Jura-Leier!“ So energisch hatte er sie bisher selten erlebt. „Weißt du, ich wollte, als ich jung war, auch alles Mögliche werden – ich hatte ja auch keine Ahnung: Indianer, Tierpfleger, Fotograf, Journalist, Arzt, Gärtner, Hubschrauberpilot …“ „Na super! Da hast du ja ’ne Bombenlandung hinbekommen! Das meine ich jetzt ironisch.“ „Dacht’ ich mir! Aber wart’ mal einen Moment, ich glaube, ich hab da ’was Weiterführendes – bin gleich wieder da!“

Komm mit mir ins Abenteuerland**

Herr W griff ins wohlsortierte Wohngruppenbücherregal, schlappte mit seinem schweren Fang zurück ins Kitchen und machte es sich auf seinem Stammlandeplatz am Küchentisch bequem. Wer ihn da so sitzen sah, mochte fast glauben, er wähnte sich in einem gemütlichen Ohrensessel. Als es draußen auch noch zaghaft zu schneien anfing, fehlte nur noch das Knistern von Holzscheiten im Kamin. Und er begann mit dem Bericht über „Die vier kunstreichen Brüder“:

Es war ein armer Mann, der hatte vier Söhne. Wie sie nun herangewachsen waren, sprach er zu ihnen: „Meine lieben Kinder, ihr müsst in die Welt, ich habe nichts, das ich euch geben könnte, macht euch auf in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht, wie ihr euch durchschlagt.“ Da ergriffen die vier Brüder den Wanderstab, nahmen Abschied von ihrem Vater und zogen zusammen zum Tor hinaus … Hin und wieder machte Herr W eine kleine Kunstpause, nippte an seinem Cappuccino und setzte dann seine Ausführungen fort: Wie die vier Jungs zufällig auf Experten unterschiedlichster Disziplinen ­trafen; wie sie sich anfangs sträubten, dann aber die Ausbildung mit Begeisterung absolvierten und zu Meistern ihres Faches wurden und – mit etwas Glück natürlich – eine steile Karriere machten, indem sie mit ihren er­worbenen Fertigkeiten eine Prinzessin aus den Klauen eines Drachens befreien konnten. Dafür erhielt ein jeder von ihnen ein ­halbes Königreich als Dank. „Nicht schlecht was?! Roll nicht so mit den Augen! Wir werden jetzt mal einige wichtige Punkte herausarbeiten. Erstens: Die Jungs hatten auch keinen Plan, was sie mit ihrem Leben einmal ­anfangen wollten. Dir geht’s im Moment ­genauso! Zweitens: Sie bekamen von einem Fachmann einen ungewöhnlichen Ausbildungsvorschlag unterbreitet, dem sie zunächst ablehnend gegenüberstanden – siehst du hier Parallelen? Drittens: Der Grund für ihre ablehnende Haltung waren mangelnde oder falsche Vorstellungen, die die Brüder von ihrem zukünftigen Tätigkeitsfeld und den damit verbunden Karrierechancen hatten – du siehst, ich nehme das Wort Büro nicht in den Mund! Viertens: Ihre Offenheit für einen Ausbildungsberuf hat sich für sie letztlich ausgezahlt! Zugegeben, es gibt heutzutage einen eklatanten Mangel an zu befreienden Prinzessinnen, zu tötenden ­Drachen und zu verteilenden Königreichen. Das war damals natürlich grundlegend anders … aber mir geht es auch mehr um die Botschaft: Es muss natürlich nicht immer ein Studium sein, was Kreatives wird völlig überschätzt, und – wenn ich es mal erwähnen darf – Büro ist auch nicht gleich Büro … Du siehst so nachdenklich aus … was ist denn mit dir?“

„Och, nichts! – Darf ich mal zusammen­fassen? Also, wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hast du auch keinen wirk­lichen Plan, was ich später mit meiner Seh­behinderung mal machen könnte – wenn wir einmal von Jura und Büro absehen? – Moment! Mir ist da gerade eine Idee gekommen, vielleicht sollte ich in deine Fußstapfen treten und auch Geschichten-Wissenschaft studieren?!“ „Na siehst du, das ist ja prima! Konnte ich dir also doch bei deiner Suche nach deinem Traumjob weiterhelfen! Das lässt das Herz eines alten Pädagogen höher schlagen! Ja, dann ist mein Tagewerk wohl fast vollbracht – Kinnas, ich gehe jetzt erst mal duschen!“

Das Ende vom Lied – Haus am See***

„Was singt er da? … Und die Welt hinter mir wird langsam klein. Doch die Welt vor mir ist für mich gemacht! Ich weiß, sie wartet und ich hol sie ab! Ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind!“ – „Hört sich nach Peter Fox an!“ –

„Der Text vielleicht, aber das war’s auch schon! Dem Herrn geht es heute eindeutig zu gut! Der glaubt wohl, hier seinen ganz persönlichen Traumjob gefunden zu haben! Ich werde ihm mal das Warmwasser abdrehen, um sein Gemüt etwas abzukühlen!“ – „Weißt du überhaupt, wo wir die Therme ­abstellen müssen?“ – „Klar, mein Vater ist ­Installateur, ein Meister seines Faches. So, bei ‚vom Glück verfolgt‘ knipse ich die Therme aus, mal sehen wie der große Pädagoge damit umgeht!“ „Ich wette, der wird zum Drachen werden und Feuer speien. Fehlt dann wohl nur noch die Prinzessin und ein Königreich!“ „Ja, Herr W, so entstehen die Geschichten von morgen!“

[* Volkslied / ** Pur /*** Peter Fox / ****Kinofilm aus 2009]