Zeitenwende

Vom Leben nach der blista

Abi … und was jetzt? - Lehramtsstudium: Geschichte, Mathe, Latein

Kai Kortus, Abi 2012

17. Juni 2012: Tag 1 nach der blista: Während viele meiner Klassenkameraden bereits einen klaren Entwurf für ihre berufliche Zukunft entwickelt hatten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mehr über meinen Berufswunsch als zu meiner Kindergartenzeit, in der ich der Meinung war, dass ich mal Historiker werden möchte. Nun ja, nichts leichter als das, warum nicht irgendwo für den Bachelor in Geschichtswissenschaften einschreiben und einfach losstudieren?

Außenansicht des Instituts für Schulpädagogik
Außenansicht des Instituts für Schulpädagogik © blista 2015

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Zwei Hindernisse standen mir hierbei im Weg: Die beruflichen Perspektiven für einen blinden Historiker und die radikale Spezialisierung auf nur ein Fachgebiet. Was macht man denn mit einem abgeschlossenen Geschichtsstudium? Archiv- oder Museumstätigkeit, Journalismus, irgendetwas Fachfremdes oder natürlich den steinigen und unsicheren Pfad zu höheren akademischen Weihen erklimmen, um in Forschung und Lehre Fuß fassen zu können. Eine Archiv- oder Museumstätigkeit kam für mich mit einem Sehrest von etwa 1,5?% auf einem Auge nicht in Frage, ebenso konnte ich mich kaum für Journalismus oder eine unklare fachfremde Tätigkeit begeistern, und die Wahrscheinlichkeit, einen der heiß umkämpften akademischen Lehrstühle zu erringen, schien mir schlichtweg zu gering und von zu vielen Unwägbarkeiten abhängig. Zudem wollte ich mich auch nur ungern auf ein einziges Fachgebiet einschränken, da mir persönlich das Konzept eines der Orientierung dienenden Studium Generale grundsätzlich besser gefällt als die Steigerung der beruflichen Verwertbarkeit durch die frühzeitige Spezialisierung auf einzelne Studiengänge. Aus diesem Grund schloss ich auch meinen zweiten Favoriten, das Jurastudium, aus, obwohl ich im Vorfeld bereits einige Praktika und Jurakurse im Rahmen eines Betriebspraktikums, der Berufsorientierung sehgeschädigter Schülerinnen und Schüler (BOSS-Phase) und der Sommerakademie der deutschen Schülerakademien absolviert hatte. An dieser Stelle kam mir die im Schulprofil der blista verankerte Unterstützung bei der Berufsorientierung enorm zugute, da ich durch das Betriebspraktikum am Landgericht einen Einblick in die Tätigkeit eines blinden Richters, durch die BOSS-Phase Eindrücke aus dem Jurastudium und durch den Kurs der deutschen Schülerakademie „Vom Fall zum Urteil“ ein rudimentäres Verständnis für juristisches Arbeiten erlangen konnte. Auf Basis dieser Erfahrungen und Erkenntnisse konnte ich meine Entscheidung gegen ein Studium der Rechtswissenschaften erheblich leichter fällen.

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Schließlich führten mich meine Überlegungen zum Studiengang Lehramt an Gymnasien an der Philipps-Universität in Marburg, Studienfächer Geschichte und Latein. Der Studiengang Lehramt an Gymnasien ist zwar modularisiert, führt aber dennoch nach einer Regelstudienzeit von 9 bis 10 Semestern zum Hochschulabschluss in Form des altbekannten ersten Staatsexamens. Zum ersten Mal mit dem unterschwelligen Spott gegenüber „Paukern“ konfrontiert, machte ich mich also gleich an zwei der vier vorgeschriebenen Praktika: Ein achtwöchiges Betriebspraktikum und ein vierwöchiges Orientierungspraktikum. Das Betriebspraktikum, welches ausdrücklich nicht an einer sozialen Einrichtung abgelegt werden darf, absolvierte ich in einer Holzbildhauerei und wurde dort während der heißen Sommermonate mit harter Arbeit, aber auch mindestens ebenso viel Freundlichkeit empfangen. Trotz meiner anfänglichen Bedenken hinsichtlich des Nutzens eines solchen Betriebspraktikums, half das konzentrierte Schmirgeln widerspenstiger Werkstücke entschieden dabei, sich vom Abi-Stress zu kurieren. Einen Einblick in die Welt außerhalb der beiden Elfenbeintürme „Schule“ und „Uni“ gab es gratis dazu.

Eine Tafel am Gebäude mit der Aufschrift „Institut für Schulpädagogik“ und „Institut für Erziehungswissenschaft“
Eine Tafel am Gebäude mit der Aufschrift „Institut für Schulpädagogik“ und „Institut für Erziehungswissenschaft“ © blista 2015

Mit Beginn des neuen Schuljahres wechselte ich zum ersten Mal offiziell die Rolle im Klassenraum. Mein Orientierungspraktikum führte mich an die Waldorfschule Marburg, wo ich zunächst verschiedene Klassen begleiten und anschließend auch unterrichten durfte. Entgegen der landläufigen Vorurteile vom „Malen mit Fingerfarben“ und „Namen Tanzen“ überraschte mich die sehr strukturierte, von festen Ritualen dominierte Unterrichtsatmosphäre. Als besonders verwirrend habe ich jedoch die Unübersichtlichkeit des Schulgebäudes und die Klassengröße von bis zu 40 Kindern erlebt. Nichtsdestotrotz bot gerade dies einen willkommenen Anlass, um mein eigenes Verhalten gegenüber einer Horde von sehenden Zwölfjährigen auf die Probe zu stellen.

Unvorhergesehenes zum Studienbeginn

Kurz bevor es dann endlich mit dem eigentlichen Studium losgehen sollte, traf ich noch einen ehemaligen Klassenkameraden, der Mathe und Physik auf Lehramt studieren wollte und mich, da ich ja auch mit ihm im Mathe-LK gewesen sei , davon überzeugte, nun auch zusammen mit ihm noch Mathematik zu studieren. So schrieb ich mich – zunächst mehr als Experiment – zusätzlich noch für Mathe als 3. Fach ein.

Nach all dem ging es dann auch endlich ans Werk, das lang ersehnte Studium konnte beginnen. Gut ausgestattet mit einem Laptop mit Jaws und Zusatz-Akku sowie einer Braillezeile, die ich dank der Beratung durch die Servicestelle für behinderte Studierende der Philipps-Universität Marburg (SBS) rechtzeitig, etwa zwei Monate vorher, beim Sozialamt der Stadt Marburg beantragt hatte, saß ich in meinen ersten Veranstaltungen.

Tatsächlich war die Unterschiedlichkeit meiner Studienfächer der Faktor, der die meisten Hindernisse aufwarf, gleichzeitig aber auch der Grund, warum mir dieses Studium viel Freude machte. Während ich in Geschichts- und Pädagogikveranstaltungen meist einfach nur mitschreibe oder, falls es sich um eine Vorlesung handelt, mittels eines Diktiergerätes mitschneide, liegt der Schwerpunkt bei Veranstaltungen am Fachbereich Mathematik für mich weniger auf dem Vorlesungsvortrag als auf dem gründlichen Nacharbeiten der Inhalte des Vorlesungsskriptes, sofern dieses vom Dozenten zur Verfügung gestellt wird. In Latein wiederum benötige ich zu übersetzende Texte meist in Punktschrift, während ich meine Übersetzung am Laptop anfertige. Als ich mich durch den organisatorischen Dschungel des ersten Semesters geschlagen hatte, verfügte ich über einen festen Stamm an Vorlesern, ausreichende Kenntnisse über die Unibürokratie und einige Erfahrungen im Umgang mit Dozenten, deren Lehrmaterialien es zu beschaffen galt, damit sie anschließend von den eigenen Vorlesern oder der SBS in eine für mich lesbare Form umgewandelt werden konnten.

Kai Kortus sitzt mit einem Notebook am Tisch, neben ihm zwei Kommilitonen
Kai Kortus sitzt mit einem Notebook am Tisch, neben ihm zwei Kommilitonen © Lauritz Noack

Im zweiten Semester begann ich allmählich, den Abwechslungsreichtum meines Studiums zu genießen. Während ich im Semester mit Veranstaltungen und dem Rechnen der Übungszettel für Mathe beschäftigt war, schrieb ich während der Semesterferien Hausarbeiten oder absolvierte schulpraktische Studien (SPS), wie die studienbegleitenden Praktika in Pädagogik genannt werden. Mit Beginn des zweiten Semesters folgte die Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir seitdem die Teilnahme an vielen verschiedenen Kursen, selbstorganisierten Exkursionen und Sommerakademien ermöglicht hat.

Asta-Referat für Studierende mit Behinderung

Im Laufe der ersten Semester waren mir bereits die unterschiedlichsten Einstellungen von Dozenten im Umgang mit Studierenden mit Sehbehinderung begegnet. Vom zögerlichen „Oh Gott, wie kann man das denn machen?“ über das wenig engagierte „nein, da sehe ich meinerseits grundsätzlich keine Möglichkeiten“ und dem ablehnenden „Wieso überhaupt die Mühe … als Blinder?“ bis hin zum freundlich professionellen Umgang, der mir zum Glück in der Mehrzahl der Fälle entgegengebracht wurde, habe ich selbst alles erlebt. Um das auch von der Philipps-Universität unterzeichnete Konzept einer inklusiven „Hochschule für Alle“ im Studienalltag von Studierenden mit Behinderung noch präsenter werden zu lassen, begann ich mich als Referent des AStA für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen aktiv in der Hochschulpolitik zu engagieren. In den letzten zweieinhalb Jahren sorgte das Referat in enger Zusammenarbeit mit der SBS, anderen Einrichtungen der Universität und dem Behindertenbeirat der Stadt Marburg unter anderem für die barrierearme Gestaltung von Hörsälen, eine umfassende Beschilderung der universitären Räumlichkeiten in Groß- und Punktschrift und die Einrichtung einer jährlich stattfindenden Orientierungsveranstaltung zum Berufseinstieg von Studierenden mit Behinderung.

An dieser Stelle ist es mir besonders wichtig, auf die Notwendigkeit eines gemein­samen Engagements aller Studierenden mit Behinderung am gleichen Studienort hinzuweisen, da nur so Missstände erkannt, Probleme angesprochen und hilfreiche Informationen ausgetauscht werden können.

Weiterer Studienverlauf

Spätestens nach dem dritten Semester stellte ich fest, dass ich mit Mathematik gut zurechtkam, weshalb ich das ehemalige Studienexperiment von diesem Zeitpunkt an auch tatsächlich abschließen wollte. Während mein Umfeld sämtliche potenziellen Schwierigkeiten nur in der Mathematik sah, ergaben sich für mich die wirklichen Probleme im arbeitsintensiven Lateinstudium, das den Erwerb eines Graecums und Übersetzungskenntnisse vom Deutschen ins Lateinische umfasst. In Zusammenarbeit mit der Punktschriftbücherei der blista, der SBS und der Fernuniversität Hagen gelang es mir innerhalb von drei Semestern, Polytonisches Griechisch in die altgriechische Punktschriftsystematik von 1912 umzusetzen und mir so im Selbststudium die für das Graecum erforderlichen Sprachkenntnisse anzueignen, da die Teilnahme an einem überfüllten Sprachkurs mit 90 Teilnehmenden für mich nicht ertragreich war. Schließlich war aber auch dieses Kapitel erfolgreich abgeschlossen.

Die beiden Schulpraktika während des Studiums gestalteten sich recht unterschiedlich. Das erste Schulpraktikum verschlug mich bereits nach meinem zweiten Semester wieder in heimische Gefilde, da ich von einer fürsorglichen Uni-Sekretärin zusammen mit zwei ehemaligen Klassenkammeraden, die ebenfalls auf Lehramt studierten, für die Carl-Strehl-Schule eingeteilt worden war. Natürlich begegnete ich fast nur Lehrern, die mir aus meiner gerade einmal ein Jahr zurückliegenden Schulzeit bekannt waren, doch stellte dies nicht unbedingt einen Nachteil dar, da mir dadurch bereits früh Unterrichtsverantwortung übertragen wurde. So konnte ich auch mal fachfremd unterrichten und von der 6. bis zur 13. Klasse Unterrichtserfahrung sammeln. Dabei waren die Kenntnis der Räumlichkeiten, die kleinen mit Laptops ausgestatteten Klassen und die freundliche Aufnahme im Kollegium natürlich eine große Hilfe.Ungewohnt war es schon, ausgestattet mit dem Schlüssel für das Lehrerzimmer und offiziellem Aufenthaltsverbot in der Schülercafeteria, aber dennoch eine wertvolle und lehrreiche Erfahrung.

Mein zweites Schulpraktikum absolvierte ich parallel zu meinem sechsten Semester an einem staatlichen Gymnasium in Marburg im Fach Geschichte. Interessanterweise war dieses Praktikum arm an Überraschungen, fast schon routiniert hielt ich meine Lehrprobe und dann waren die 50 Hospitations- und Unterrichtsstunden auch bereits wieder vorbei.

Seit diesem Praktikum sehe ich jedenfalls vermehrt den Nutzen eines reinen Praxissemesters gegenüber einem semesterbegleitenden Praktikum in nur einem Fach, da man sich so besser auf die schulischen Abläufe einstellen kann.

Ausblick

Mit dem Ende meines sechsten Semesters habe ich mein Mathematik- und Geschichtsstudium sowie das pädagogische Begleitstudium mit Ausnahme von je einer Veranstaltung abgeschlossen. Lediglich in Latein und Griechisch fehlen mir aufgrund des mit dem Erwerb des Graecums verbundenen enormen Zeitaufwands noch vier weitere Veranstaltungen, die ich während meines siebten Semesters in Angriff nehmen werde.

In den nächsten Semestern werde ich voraussichtlich mein Studium mit dem ersten Staatsexamen abschließen und dann, konfrontiert mit der Realität des Arbeitsmarktes, herausfinden, wieviel der Vielseitigkeit sich auch im künftigen Berufsleben bewahren lässt. Ob ich anschließend noch das Referendariat, das für den Erwerb des zweiten Staatsexamens erforderlich ist, absolvieren werde, oder ob es mich zu ganz anderen berufsbiographischen Ufern ziehen wird, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau sagen.

In jedem Fall bin ich jedoch jetzt schon sehr froh darüber, dass mir diese Art von Studium einen hervorragenden Einblick in mathematisches, philologisches, historisches und im Rahmen von Pädagogik auch in philosophisches und psychologisches Arbeiten ermöglicht hat. Außerdem konnte ich mich durch Akademien der Studienstiftung und die Durchführung eigener Kurse im Rahmen des Clubs der Ehemaligen der deutschen Schülerakademien nach Lust und Laune mit über das Studium hinausgehenden fachübergreifenden Themen beschäftigen.

Solltet ihr Fragen an mich haben: ­Kortusk@students.uni-marburg.de.