Fachtagung Inklusion
„Wir brauchen die geballte Kompetenz”
Kultusminister Alexander Lorz bei Fachtagung der blista
Gesa Coordes* und Thorsten Büchner**. „Inklusion braucht Qualität!“: Das betonten alle Referenten der gleichnamigen Fachtagung der blista, die am 5. November auf dem Campus in Marburg stattfand. Rund 200 Gäste kamen zu der Auftaktveranstaltung zum 100-jährigen Jubiläum der blista, das 2016 gefeiert wird. In Vorträgen und Workshops diskutierten sie über inklusive Pädagogik und Didaktik.
Hintergrund der Initiative: Seit 2009 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland. Seitdem wird viel über Inklusion gestritten und diskutiert, doch blinde, sehbehinderte und hörgeschädigte Menschen kommen in dieser Debatte kaum vor. Grund genug, die Diskussion erstmals gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten voranzutreiben.
Marburg als Vorreiter der Inklusion
Dass Marburg und die blista in den vergangenen 100 Jahren immer wieder Vorreiter bei der Inklusion waren, betonte blistaDirektor Claus Duncker bei der Begrüßung: Von hier aus traten die akustischen Ampeln und der weiße Langstock ihren Siegeszug an. Hier entstand die erste deutsche Blindenhörbücherei. Die Philipps-Universität, an der ein Drittel aller sehbehinderten Hochschüler Deutschlands studieren, hat sich des Themas mit großem Engagement angenommen. In Flächenländern sei die optimale Versorgung von sehbehinderten Schülern jedoch schwierig, so Duncker. Und wenn die schulischen Leistungen sinken, drohten Schulabbrüche.
Dass Inklusion kein Allheilmittel ist, schilderte der Psychologe Peter Rodney vom dänischen Institut für Blinde und Sehbehinderte in Kopenhagen. Seit mehr als 30 Jahren gilt das Land als Vorreiter schulischer Inklusion. Das Ergebnis sei allerdings „schrecklich“, so Rodney. Fast die Hälfte aller blinden und sehbehinderten Menschen in Dänemark verlässt die Schule ohne Abschluss, nur 15 Prozent von ihnen finden einen Job. Das ist die höchste Arbeitslosenquote blinder und sehbehinderter Menschen in Europa.
Nach seinen Untersuchungen hängt dies auch mit der inneren Einstellung der Nicht-Behinderten zusammen: Jeder zweite Schüler möchte nicht neben einem blinden Menschen sitzen. Mehr als zwei Drittel der Befragten finden es peinlich, neben einem Blinden auf der Straße zu gehen.
Kultusminister Lorz: „Wir haben noch einen langen Weg vor uns“
Dass die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen zur Bewusstseinsbildung beiträgt, betonte der hessische Kultusminister Prof. Dr. Alexander Lorz. Wie man dabei am besten zu chancengleicher Bildung komme, sei eine ganz andere Frage: „Da haben wir noch einen langen Weg vor uns“, sagte Lorz. Er berichtete von einer kontinuierlichen Zunahme der Jungen und Mädchen, die in hessischen Regelschulen inklusiv beschult werden. Zugleich steige jedoch auch die Zahl der Schüler mit Förderbedarf, die aktuell zwischen 7.000 und 8.000 liege. Der Kultusminister betonte aber auch: „Wir brauchen beide Angebote – die inklusive Beschulung und die Förderschulen. Da brauchen wir die geballte Kompetenz, wie sie die blista bietet.“
In Städten wie Marburg ließen sich Vorurteile besonders leicht überwinden, weil Blinde und Sehbehinderte selbstverständlich zum Stadtbild gehörten, sagte Pädagogikprofessorin Vera Moser (Humboldt-Universität Berlin). Sie berichtete, dass Deutschland bei der inklusiven Beschulung im europäischen Vergleich einen der letzten Plätze belege. Nur ein Fünftel der Schüler mit Förderbedarf besuche eine Regelschule.
Inklusionsbotschafterin Helke: „Für die Sozialämter ist das ein Horror“
Welche technischen und personellen Voraussetzungen Hörbeeinträchtigte brauchen, um in Regelschulen klarzukommen, erläuterte Inklusionsbotschafterin Ines Helke vom deutschen Schwerhörigenbund: Mikroportanlagen für die Lehrer, Teppiche auf den Böden, eine kreisförmige Sitzordnung und eine gute Beleuchtung für Lippenleser, Untertitel für die Filme und mitunter auch Gebärdendolmetscher: „Für die Sozialämter ist das ein Horror“, weiß Helke. Oft klappe die inklusive Beschulung im Kindergarten und in der Grundschule noch gut. In den weiterführenden Schulen werde es oft schwierig. Deshalb sprach sie sich gegen die Abschaffung der Schulen für Hörbeeinträchtigte aus.
Dass vieles in den Regelschulen nicht möglich ist, schilderten auch die Schüler der blista während einer Podiumsdiskussion: „In der blista Sport zu machen, ist etwas ganz anderes“, sagte Tabea (17). Neben Reiten, Schwimmen, Radfahren, Rudern und Judo lernen die Schüler der blista surfen und Ski fahren. Für den naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es Modelle, um Erdbeben, Moleküle oder geometrische Figuren zu ertasten. Und für chemische Experimente gibt es Geräte, mit denen sich etwa Farbumschläge und Veränderungen der Leitfähigkeit hören lassen. Tizian (18) und Matthias (13), ebenfalls Schüler der blista, gaben einen Einblick in ihren Schulalltag. Lebendig erläuterte Matthias, wie seine Klasse auf seine – neben der Sehbehinderung – zusätzliche Hörbehinderung eingeht. „Für mich ist es wichtig, dass nicht durcheinander gequasselt wird und jeder, wenn er dran ist, in seine Mikroport-Anlage spricht, damit ich das gut verstehen kann.“ Auch Tizian, der erst seit diesem Schuljahr die Carl-Strehl-Schule besucht, erzählte aus seinem Alltag mit Seh- und Hörbehinderung. Vor seinem blista-Besuch war er auf einer Schwerhörigenschule. Da er Abitur machen möchte, entschied er sich für die blista, „weil dort die Klassengröße so ist, dass ich dem Unterricht gut folgen kann und mir das Klima generell gut gefallen hat“.
Öffentlichkeit schaffen – Wider die Fast-Food-Inklusion
Während der Mittagspause nutzten die Teilnehmer der Fachtagung die Chance, sich über das Gehörte auszutauschen und sich auf die verschiedenen Workshops zu verteilen. Thematisch griffen die Workshops zu Themen wie „Der Inklusionskoffer für Schulen – was muss hinein?“ oder „Warum braucht es überregionale Beratungs- und Förderzentren?“ die Inhalte der Tagung auf und behandelten auf praktische Weise den Unterricht für seh- und hörbeeinträchtigte Kinder. Dabei erwiesen sich drei Punkte als gemeinsame Nenner. Besonders wichtig sei die Vernetzung untereinander sowie Öffentlichkeit für die Belange von sinnesbehinderten Kindern zu schaffen. Die zweite zentrale Botschaft richtete sich an die allgemeinen Schulen, die in die Kooperationen eng eingebunden sein müssen. Dritter Punkt war die Hilfsmittelsituation, dort vor allen Dingen das Wissen um deren Einsatzmöglichkeiten.
Den Abschluss von „Inklusion braucht Qualität“ bildete eine moderierte Talkrunde mit Vertreterinnen und Vertretern von Selbsthilfe-, Eltern- und Pädagogenverbänden. Andreas Kammerbauer, stellvertretender Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten – Selbsthilfe und Fachverbände e.V“ (GD) freute sich über den gelungenen Austausch und wünschte sich eine Intensivierung der Zusammenarbeit. Uwe Boysen, Vorsitzender des „Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V“ (DVBS) betonte, dass der Titel der Fachtagung „als Aufforderung begriffen und gelebt werden“ müsse. Eine „Fast-Food-Inklusion“ dürfe es nicht geben, diese schade neben den Betroffenen auch dem Begriff der Inklusion selbst. Marion Böttcher von der „Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e.V“ (BEBSK) machte deutlich, wieviel Kampf und Einsatz Eltern oftmals noch abverlangt werden, um für ihre Kinder qualitativ gute Bildungsmöglichkeiten zu erreichen. Sie wünschte sich, genau wie Nicole Schilling von der „Elternvereinigung hörgeschädigter Kinder in Hessen e.V.“, intensivere Kontakte, um von den Kompetenzen des jeweils anderen profitieren zu können. Für Nicole Schilling war es besonders „interessant zu erfahren, dass die Themen, Probleme und Herausforderungen von sinnesbeeinträchtigten Menschen gar nicht so unterschiedlich sind wie angenommen.“
Die beiden Vertreter der Pädagogenverbände, Bernhard Hohl für den „Berufsverband der Hörgeschädigtenpädagogen“ und Patrick Temmesfeld, Vorstandsmitglied des „Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik“ (VBS), machten auf den nach wie vor existierenden Mangel an qualifizierten Lehrkräften in den Förderschwerpunkten „Sehen“ und „Hören“ aufmerksam.
Darauf angesprochen, wie es nach der Fachtagung weitergehe, antwortete Temmesfeld, dass er nach den Vorträgen, Workshops und der Abschlusstalkrunde für sich das Fazit ziehe: „Die nächste Tagung sollte ‚Inklusion braucht Haltung‘ heißen. Daran arbeiten wir schon. Ein Anfang ist gemacht.“
*Journalistin,
** Öffentlichkeitsarbeit blista