Winnies Wunderbare Welt
Heute: Die alten Knacker*innen – Älterwerden in der sozialen Arbeit
Winfried Thiessen | Na endlich, dachte schon, du wärst auf dem Klo eingeschlafen! Hab dir einen Kaffee mitgekocht.
Oh man, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich keinen Filterkaffee mehr vertrage! Ich hab mir extra Fencheltee gemacht, da steht die Kanne!
So? Hast du noch nie erwähnt, jedenfalls nicht mir gegenüber. Du trinkst im Team doch immer Kaffee.
Nein! Jedes Team sag ich dir das! Du vergisst es nur immer wieder. Das mit dem Kaffee ist Jahre her.
Dann trink eben deinen Fencheltee. Was haben wir denn heute alles auf der Agenda? Müssen mal in die Pötte kommen, ist ja schon eine halbe Stunde rum, sehe ich gerade. Ich habe mir in den Sommerferien eine Liste mit Themen gemacht, die wir gleich am Anfang des neuen Schuljahres unbedingt besprechen müssen. Wo hab ich sie denn gleich nochmal? ... Mist! Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein! Ich werde sie doch nicht auf meinem Schreibtisch zuhause liegen gelassen haben?
Sag ich doch. Das ist wieder einmal typisch!
Was ist typisch?
Du bist in letzter Zeit so vergesslich geworden.
Deshalb schreibe ich mir Dinge ja auch auf!
Und du siehst ja, was es bringt! Nix. Willst du mal meine Theorie hören?
Hab ich eine Wahl?
Ich denke, viel wahrscheinlicher ist, dass du dir vor den Ferien vorgenommen hattest, dir Wichtiges aufzuschreiben, eben weil du so vergesslich geworden bist. Das hast du aber in den Ferien wieder vergessen. Du bist aber der vollen Überzeugung, du hättest dir irgendetwas irgendwo irgendwann notiert, das Langzeitgedächtnis funktioniert ja im Alter und spielt dir da einen Streich – etwas tun wollen ist eben nicht das Gleiche wie etwas zu tun. Wahrscheinlich ist dein Schreibtisch leer. Da wird sich kein Zettel drauf befinden, denn der ist ja nur ein Gedanke von dir.
Das ist mir jetzt zu kompliziert! O.k. dann machen wir eben eine Sammlung, ein Brainstorming.
Einer müsste mal anfangen!
Bei mir stormt nix, Flaute, absolut. Nach sechs Wochen Ferien, da ist alles gelöscht.Übrigens, schon mitbekommen? Der Ernst ist weg. Ist jetzt Rentner. Hat sich einfach so aus dem Staub gemacht! In den Sommerferien! Kein Abschied - nix! Wollte er nicht, munkelt man. Und das nach über 35 Jahren! Kein Respekt vor den Hinterbliebenen, der alte Sack.
Tja, was soll ich schon dazu sagen? Da ist uns der Ernst wohl einfach so mir nix, dir nix abhanden gekommen.
Geht es euch eigentlich auch so? Seit einigen Jahren suche ich jedes Mal bei den Gesamtkonferenzen verzweifelt nach Gesichtern, die ich noch kenne. Es werden immer weniger. Dieser Generationenwechsel, ich sag euch, ich fremdle - aber sowas von.
Jetzt übertreib mal nicht so, ein paar von uns sind ja noch da.
Es sind ja nicht nur die vielen neuen Gesichter ohne gemeinsame Geschichte, auch diese neue Kultur, dieses „Siezen.“ Jetzt heißt es, der Herr Müller ist in Rente gegangen. Wer ist denn Herr Müller? Der Ernst - wegen mir auch Ernst Müller - hat sich davongeschlichen! Weißt du, wie ich mich fühle, wenn man mich siezt und mit Nachnamen anspricht?
Stell dich nicht so an - aber bei deinem komischen Nachnamen, kein Wunder! Das klingt jedes Mal wie ein Altersupgrade in meinen Ohren! Das ist das Letzte, was ich jetzt noch brauche! Ich fühle mich so schon alt genug. Der Vorname ist mein Jungbrunnen, meine ganz persönliche Illusion des Nie-Älterwerdens im Job – und mein Markenzeichen, so wie 4711.
4711? Wer kennt denn das noch? Ist doch schon lange aus der Mode. Mir reicht es schon, wenn morgens die Schüler*innen zum Frühstück kommen und mich fragen: „Na, wie geht´s UNS heute?“ Den Opa lassen sie nur aus Angst vor den Konsequenzen weg.
Hör jetzt mal auf, du Jammerlappen. Der Ernst ist eben in Rente, so läuft´s nun mal.
Sag ich ja! Das ist überhaupt nicht lustig und bald ist er auch für immer vergessen, der Herr Müller.
Passiert mir nicht! Ich hab mir zwei Quadratmeter auf dem blista-Gelände gekauft.
Für was, wenn ich fragen darf?
Einen Quadratmeter, da kommt der Betonsockel hin für mein Denkmal. Der andere Quadratmeter ist für mein Urnengrab.
Du musst proaktiv gegen das Vergessen handeln. Hab mir schon eine Inschrift überlegt: In ewigem Gedenken, dem großen Pädagogen!
Da muss ich dich leider korrigieren: du bist 174, von wegen großer Pädagoge! Und jedes Jahr schrumpfst du etwas.
Das machst du immer, immer korrigierst du mich! Wir sind nicht verheiratet, auch wenn es dir nach fast 30 Jahren so erscheint!
Nicht schon wieder Ehekrise! - Leute!
Kann es sein, dass wir nach dem Abgang vom Ernst, äh Herrn Müller, mit Abstand das älteste Team an der blista sind?
Gut möglich - ich habe mich aber für mein Alter noch super gut gehalten, im Gegensatz zu euch.
Schon mal was von Irrglaube gehört?
Wenn du das nächste Mal in den Spiegel schaust, dann zieh dir mal zur Abwechslung eine Brille auf, mach vorher das Licht an und geh ruhig mal etwas näher ran – aus dem Weltall betrachtet oder bei Nacht erscheint jeder Gesichtsacker flach, aber glaub´ mir, das täuscht gewaltig!
Hey! Ihr beiden labert nur Scheiß! Schaut mal auf die Uhr. Wir müssten jetzt unbedingt mal weitermachen. Habt ihr die Mail gelesen? Es werden noch männliche Betreuer für die Kletterwald-AG gesucht. Geil, mal was anderes. Jetzt Ende August ist es auch nicht mehr so heiß. Perfekt.
Kannst du mir mal vom Stuhl helfen und meinen Gehstock reichen, damit ich mich anmelden kann?
Heißt das, wir sind mit dem Punkt durch?
Aber hallooo! Ich geh nirgends mehr wo rauf, wo es ruckelt und schaukelt, das machen meine Gelenke nicht mehr mit.
Übrigens habt ihr das mit dem Asteroiden gelesen? Wenn so einer die Erde trifft, sterben wir aus – so wie damals die Dinosaurier.
Und?! Soll er nur kommen – ich sitze dann in der Wohngruppe am Küchentisch mit einem Cappuccino, blicke aufs Marburger Schloss und zack! Und wenn es so gegen Monatsende passieren würde und ich hätte noch ein, zwei Nachtdienste vor mir, habe aber schon das Gehalt für den gesamten Monat auf meinem Konto - Alter, was willst du mehr?
Leute, bleibt beim Thema! Da ist noch eine Mail gekommen in den Ferien. Die suchen noch Mitarbeiter*innen, die das sexualpädagogische Konzept auf den neuesten Stand bringen.
Und? Was haben wir damit zu tun? Das ist doch nicht mehr unsere Baustelle! Ich dachte, aus dem Alter wären wir fein raus. Lass uns lieber mal irgendwas mit Kochkonzepten machen, da sind wir doch viel näher dran. Da lernst du dann vielleicht auch, dass man auf seine Spiegeleier nicht diese Unmenge an Salz kippt. Ich versteh gar nicht, wie man das dann noch essen kann. Aber einen guten Geschmack hattest du ja noch nie.
Könnt ihr nicht mal bei der Sache bleiben? Hier ist noch was auszufüllen. Der neue Tandembeauftragte will sich über den Zustand unseres Tandems informieren - möchte von uns wissen, ob noch irgendwas fehlt oder defekt ist.
Das hab ich schon vor den Ferien erledigt, glaube ich. Hab ihm, wenn ich mich recht entsinne, geschrieben, dass wir für unseren Kollegen hier eine Aufstiegshilfe bräuchten, so eine kleine klappbare Trittleiter, damit er überhaupt noch in den Sattel kommt.
Leute, Leute! Wir haben nur noch eine halbe Stunde, dann müssen wir hoch zur Internatsleitung. Wir sollten endlich mal mehr Teambesprechungszeit beantragen, sonst kommen wir mit allen unseren wichtigen Themen einfach nicht durch, ist doch jedes Mal so. Also, jetzt mal mehr Gesprächsdisziplin und immer die Uhr im Blick. Arbeiten, arbeiten, los! Ach, hör doch auf, hetz nicht so! Ich träum schon regelmäßig im Schlaf von der Arbeit.
Dann stell eben beim nächsten Mal rechtzeitig vor dem Aufwachen einen Antrag, ob du dir das als Arbeitszeit anrechnen kannst. Und du, schreib dir mal auf, was du heute Nachmittag noch alles erledigen musst, was wir jetzt nicht erledigen konnten, weil ihr einfach nicht beim Thema bleiben könnt.
Sag mir nicht, dass ich mir was aufschreiben soll! Du bist nicht mein Chef! Ich werde mir das schon merken können.
Geht das schon wieder los?!
Wann war bitte das letzte Mal, dass du dir was gemerkt hast? Du kannst dir doch nicht einmal mehr merken, dass du dir nichts mehr merken kannst. Du hast es doch bloß schon wieder vergessen, dass du dir vorgenommen hattest, dass du es dir immer aufschreiben willst!
Jungs, wir haben noch nicht über einen einzigen Schüler geredet!
Ach, die kommen schon zurecht! Gestern hat mir Steven gezeigt, wie man bei Amazon bestellt. War gar nicht so schwer - brauchte dicke Wollsocken, hab in letzter Zeit immer so kalte Füße im Dienst.
Es hat geklingelt! Los geh, mach mal auf!
Er sagt, er sei vom Fahrdienst. Hat sich ziemlich jung angehört.
Der Fahrdienst? Für wen? Ich dachte, unsere Schüler*innen sind alle in der Schule.
Was schaut ihr mich so fragend an? Ich hab uns einen Fahrdienst bestellt, na und? Was glaubt ihr denn, wie lange wir zu Fuß da hoch brauchen?
Ich bin doch mit dem Auto hier! Wir können mein Auto nehmen!
Das hast du das letzte Mal auch gesagt und dann mussten wir eine Viertelstunde lang suchen, und als wir es gefunden hatten, hattest du deine Brille in der Wohngruppe liegen gelassen. Auf euch verlass ich mich nicht mehr. Ab heute Fahrdienst.
Leute, wenn ihr hier weiter so einen Unsinn verzapft, dann mach ich einen auf Ernst – ich sag´s euch!
Du meinst Herrn Müller.