Zeitenwende – vom Leben nach der blista

Ein schwer lesbares Tafelbild aus dem Lateinunterricht auf einer grünen Tafel. Der Autor hat solche Tafelbilder mit dem Tablet abfotografiert und sich so zugänglich gemacht.

Ausbildung auf Umwegen

Schulische Laufbahn

Luca Marian von Kopp, Abitur 2016 | Aufgrund meiner Seheinschränkung wurde ich zunächst an der Hermann-Herzog- Schule in Frankfurt, einer Förderschule mit Schwerpunkt Sehen, eingeschult. Gleich im ersten Schuljahr stellte sich jedoch heraus, dass ich an der Förderschule unterfordert war und so wechselte ich zur 2. Klasse an eine Regelschule. Meine Sehbehinderung war weder in meinem Familien- und Freundeskreis noch in der Grundschulzeit ein großes Thema. Mir war schon klar, dass ich irgendwie nicht so gut sehen konnte wie die anderen, aber ich lief überall so mit und probierte recht unbefangen alles aus. Das merkten die anderen Jungen und Mädchen an der Regelschule auch und so fielen schnell die Barrieren zwischen uns.

Ich besitze einen stabilen Sehrest von etwa 10%. Im Unterricht in der Grundschulzeit arbeitete ich mit Hilfsmitteln wie Tafelbildkamera, Lupenstein und ich hatte eine Assistenzkraft. Damit unterschied ich mich zwar von den anderen, die fanden das aber eher spannend und so wurde ich deshalb auch nicht Opfer von Hänseleien, wofür ich im Nachhinein sehr dankbar bin.

Da sich meine Grundschule, die Freie Christliche Schule Wiesbaden, erst im Aufbau zu einer weiterführenden Schule befand und es noch keine Genehmigung für eine Sekundarstufe gab, mussten wir alle zum Schuljahr 2007/08 die Schule wechseln. Für mich stellte sich nun die Frage: Wohin? Meine Eltern und ich wurden an drei Wiesbadener Schulen vorstellig. Dort gab es aber Berührungsängste aufgrund meiner Seheinschränkung. Trotz guter Referenzen erhielten wir keine unmittelbare Zusage. Da sich meine Eltern sehr breit gefächert informiert hatten, wussten wir auch von der blista in Marburg. Aber 120 km sind eben nicht um die Ecke und das würde für mich eine Unterbringung im Internat bedeuten. Im Februar 2007 ging es zur Probewoche nach Marburg. Schon in diesen wenigen Tagen lernte ich viel Neues, vor allem in puncto Selbstständigkeit. Danach war klar: Marburg wird es.

Während der gesamten blista-Zeit habe ich immer einen sehr engen Kontakt nach Wiesbaden beibehalten. Mir war das ungeheuer wichtig, meine Wurzeln nicht aufzugeben und Freundschaften weiter zu pflegen. Gäbe es eine Statistik über die meisten Heimfahrten, dann wäre ich sicher ganz oben mit dabei, vielleicht sogar auf Platz 1. Aber auch in Marburg entwickelten sich im Laufe der Jahre echte Freundschaften. Durch die Kirchengemeinde hatte ich hier auch zusätzliche Kontakte außerhalb der blista.

Deutsch und Religion, später auch Englisch zählten zu meinen Lieblingsfächern. Ich habe mir aber eher wenig Gedanken gemacht, wie es nach der Schule einmal weitergehen sollte. Ich war sehr redegewandt und habe viel Radio gehört, was in mir den Berufswunsch (Radio-)Moderator zu werden weckte.

Ehe ich mich versah, war 2016 und mein Abitur stand vor der Tür. Ich habe mich voll auf die Prüfungen konzentriert und mir keine wirklichen Gedanken um das Danach gemacht. Ich konnte mir gut vorstellen, ein Praktikum oder ein Volontariat bei einem Radiosender zu machen. Dies war zu diesem Zeitpunkt aber eigentlich nur mein Plan B. Denn ganz oben auf meiner Liste stand ein Auslandsjahr in Kanada. Mein blista-Kumpel, mit dem ich das zusammen angehen wollte, verliebte sich dann aber und wollte nicht mehr mit. Da wir auch noch nichts Konkretes an der Hand hatten, legten wir unsere Planungen auf Eis.

Irrungen und Wirrungen

Also bewarb ich mich bei HIT RADIO FFH und dem Hessischen Rundfunk. Ich schrieb nicht nur offizielle Bewerbungen, sondern versuchte auch, leider erfolglos, mittels E-Mail und Anrufen Kontakt zu den verantwortlichen Stellen aufzunehmen. Aber letztlich scheiterten alle meine Bemühungen – nicht nur am fehlenden Führerschein. Im Nachhinein ist mir klar, dass ich viel vehementer hätte vorgehen und viel mehr Bewerbungen hätte schreiben müssen, auch um die Berührungsängste im Umgang mit meiner Seheinschränkung abzubauen. Natürlich war ich erst mal ziemlich frustriert.

Also musste ich mir im Sommer 2016 Gedanken über Alternativen zu einem Praktikum beim Rundfunk machen. Die Vorstellung einer Berufsausbildung schien mir zwar sehr attraktiv, aber dafür war es in diesem Jahr bereits zu spät. Da ich aus einem christlichen Elternhaus komme und das Fach Religion in der Schule auch ganz gerne mochte, entschied ich mich, zum Wintersemester 2016 Uniluft zu schnuppern und belegte in Mainz den Studiengang Evangelische Theologie. Ich konzentrierte mich von Anfang an voll auf mein Studium. Die Barrieren ließen sich recht gut umschiffen. Ich nutzte mein Smartphone, wenn es etwas zum Abschreiben von der Tafel gab. Die Folien, auf die sich die Lehrenden bezogen, wurden mir praktisch immer rechtzeitig zugänglich gemacht. Der Schwerbehindertenbeauftragte fand mit mir Lösungen für Klausuren, die ich entweder an einem Extratisch im Saal mit Uni-Laptop oder im Büro des Schwerbehindertenbeauftragten selbst auf einem Standrechner schreiben durfte. Auch fand ich schnell Anschluss an eine Gruppe Kommiliton*innen, mit denen ich gemeinsam die Kurse besuchte und in den Pausen abhing. Auch hier war meine Sehbehinderung zwar gegenwärtig, aber nie ein großes Thema. Wenn ich etwas nicht sah, halfen mir die anderen direkt.

2017 kam bei mir im zweiten Semester das Gefühl einer inhaltlichen Schwammigkeit des Studienganges auf. Ich konnte nicht sagen, was ich einmal, nach etlichen Jahren Studium, beruflich damit anfangen könnte. Ich recherchierte also doch weiter und sah, dass man in Karlsruhe „Verkehrssystemmanagement“ studieren konnte. Zwar etwas ganz anderes, aber ein Bus-Fan war ich schon als Kind. Ich dachte ja damals, mein Unmut läge einfach nur am falschen Studienfach. An der Hochschule Karlsruhe für Technik und Wirtschaft schrieb ich mich recht kurzentschlossen zum Wintersemester 2017 ein und organisierte einen Wohnheimplatz und den Umzug. Auch hier waren die Gegebenheiten und Nachteilsausgleiche für mich recht einfach zu organisieren, aber ich merkte schnell, dass Mathematik und Informatik, aus deren Inhalten das Studium zu wesentlichen Teilen bestand, nicht das waren, womit ich mich hauptsächlich beschäftigen wollte. Zudem fand ich dort keinen direkten Gruppenanschluss und war öfter allein. Auch wenn ich per se offen und kommunikativ war, fehlte es mir in manchen Situationen an Selbstbewusstsein. Ich unternahm wenig und wenn, dann immer mit wechselnden Leuten. Es bildete sich kein fester Kern wie in Mainz. Nach einem Semester war mir klar: nur noch weg hier!

Wieder zu Hause beschäftigte ich mich dann eingehend damit, was aus mir werden sollte. Ich recherchierte zuerst nach weiteren Studiengängen und nahm an Berufsberatungen teil. Das Thema Ausbildung rückte zurück in meinen Fokus. Da ich kein Risiko mehr eingehen wollte, kam ein duales Studium ebenfalls nicht infrage. In meiner Freizeit schaute ich viele Krankenhausdokus. Dadurch kam ich auf die Idee, bei einer Krankenkasse zu beginnen. Hier gab es haufenweise Ausbildungsplätze in meiner Nähe und so haute ich viele Bewerbungen heraus, ging zu Gesprächen und machte Einstellungstests. Die Resonanz war allerdings nicht so toll wie erhofft. Es hagelte Absagen und Vorurteile. Geprägt von zahlreichen Negativerfahrungen mit zu wenig Zeit bei den Einstellungstests rief ich nach einer Einladung zu einem weiteren Test vorher dort an und schilderte meine Bedenken. Man motivierte mich, am Test teilzunehmen, vermerkte aber, mein Ergebnis nicht punktgenau als KO-Kriterium zu gewichten. Ich erhielt tatsächlich einige Tage später die Einladung zum Vorstellungsgespräch und kurz danach die zweite Einladung zum „Test der Systeme“, wo mir Arbeitsplätze und die Software vorgeführt wurden. Am Ende des Termins erhielt ich direkt meine Zusage. Überglücklich startete ich dann im August 2019 eine zweieinhalbjährige Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen.

Da das Unternehmen sowieso sehr digital aufgestellt war, gab es im Unterricht für mich kein Problem. Die Ausbilder*innen sendeten mir anstandslos ihre Folien für den internen Unterricht und für Tests erhielt ich, wenn nötig, mehr Zeit - das alles ohne extra schriftliche Nachweise meiner Sehbehinderung.

In der Berufsschule war man zwar auch auf der Höhe der Zeit, aber natürlich noch etwas analoger. Auch hier zeigte man sich aber von Beginn an total entspannt. Ich erhielt die Arbeitsblätter entweder großgedruckt oder digital. Ich führte einen Versuch durch, mein iPad als Rechner im Unterricht zu nutzen, um mit dessen Kamera die Tafel fotografieren zu können. Dies stellte sich als wahnsinnig praktisch heraus und meine gesamte Berufsschulzeit war ich mit dem iPad super flexibel und voll einsatzfähig. Auch Fächer wie Sport standen hier auf unserem Lehrplan. Ich wollte mich nicht im Vorhinein einschränken, damit man keinen schlechten Eindruck von mir gewinnt. Mein Sportlehrer nahm das sehr positiv auf. Er war super interessiert, wie ich mich bei für einen Sehbehinderten „schwierigen“ Sportarten schlagen würde, sodass er gerade diese meistens auf den Plan rief. Ich fand das etwas befremdlich und machte auch keinen Hehl daraus.

Meine Mitauszubildenden waren super offen und sozial. Meine Sehbehinderung stellte in der Gruppe zu keinem Zeitpunkt ein großes Problem dar. Ich konnte meine Nachbar*innen immer fragen und alle waren echt geduldig, mir Dinge im Buch zu zeigen oder die Schrift des Lehrers an der Tafel zu entziffern. So unkompliziert die Berufsschule auch war, so lähmend war die IHK. Hier musste ich ja meine Prüfungen ablegen. Es wurden über mehrere Wochen zahlreiche Anträge und Nachweise eingefordert. Anfangs zeigte man sich wenig kooperativ und schlug doch tatsächlich vor, meine Abschlussprüfung, die aus zwei Teilen bestand, mit sechs Monaten Pause dazwischen zu schreiben, statt an ein oder zwei Tagen wie üblich. Grund: Der zeitliche Mehraufwand. Mit Unterstützung meines Betriebes lenkte die IHK ein und ich bekam einfach einen 50%igen Zeitzuschlag auf alle offiziellen Prüfungen. Schreiben durfte ich am PC im IHK-Gebäude.

Aber auch im Betrieb war nicht alles nur rosig. Als es daran ging, im zweiten Lehrjahr eine Abteilung für mich zu finden, erklärte sich zunächst niemand bereit, mich zu nehmen. Trotz meiner guten Leistungen äußerten praktisch alle Ausbilder* innen Bedenken wegen meiner Sehbehinderung, obwohl sie im Betriebsunterricht sahen, dass ich zurechtkam und am PC super mitarbeiten konnte – das Wagnis des Unbekannten eingehen wollte dann doch keiner.

Zufällig sprang dann genau jener Mitarbeiter ein, mit dem ich die beiden Vorstellungsgespräche hatte. Er wurde mein Ausbilder und Mentor. Eigentlich war bei ihm keine Stelle geplant, doch er glaubte an mich und verbrachte in den folgenden eineinhalb Jahren viel Zeit damit, mich durch Corona im Homeoffice am Bildschirm einzuarbeiten (siehe Zeitenwende – Spinn off).

Mittlerweile bin ich – seit zwei Jahren ausgelernt – noch in genau dieser Abteilung auf einer Expertenstelle. Eine Ausbildung war das Beste, was mir hätte passieren können und ich ärgere mich nur, diese nicht früher begonnen zu haben. Aber auf Versicherung wäre ich im Leben nicht gekommen, dazu brauchte es die vorherige Odyssee. Von mir gibt es eine klare Empfehlung: offen mit seiner Sehbehinderung umzugehen und sich im Vorfeld nicht frühzeitig einschränken zu lassen oder auf etwas zu versteifen.

Bleibt offen und neugierig.

Euer Luca