Meine blindentechnische Grundrehabilitation bei der blista

Uta Willms zeigt gutgelaunt ihre kulinarischen Künste und rührt in einer Edelstahlschüssel Schokolade.

Uta Willms | Die Erbkrankheit Retinitis Pigmentosa (RP) hat mich seit Kindertagen unerkannt begleitet, erst mit Anfang zwanzig habe ich die Diagnose erhalten, ohne dass ich über den möglichen Verlauf aufgeklärt wurde. Anfang der Neunziger des letzten Jahrhunderts war Internetrecherche noch nicht gang und gäbe und das tägliche Leben war auch ohne ungreifbare Krankheiten aufregend genug, sodass RP in den Hintergrund trat. Außerdem war für mich mein Sehen normal, ich kannte es schließlich nicht anders. Verschlechterungen geschahen so schleichend, dass ich sie nicht bemerkte.

Über viele Jahre betrug mein Gesichtsfeld ca. 10 Grad und 40% Sehschärfe, doch im Frühjahr 2020 spürte ich, dass mein Sehen massiv schlechter wurde. Der Schock bei der Augenuntersuchung im Dezember 2020: mein Gesichtsfeld ist mittlerweile auf unter fünf Grad geschrumpft, ebenso hat die Sehschärfe extrem nachgelassen, nur noch ca. 10%.

Erblindung war in meiner Lebensplanung nicht vorgesehen, hatte ich doch erst im Sommer 2019 meine kleine "Confekteria" gegründet. Nun tat sich erst mal ein dunkles Loch auf, wie soll und kann ich meinen Pflichten weiter nachkommen, wenn ich gar nichts mehr sehe? Mobilitätstraining unter Einbeziehung meines Restsehens im engeren Umkreis um meinen Wohnort war der erste Schritt, um meine Autonomie zu bewahren. Im Frühjahr 2021 machte ich eine medizinische Reha im Südschwarzwald, um meine Psyche wieder ins Lot zu bringen. Die Auszeit tat mir sehr gut und ich hatte neuen Mut, mich dieser Herausforderung zu stellen. Doch wieder im Alltag angekommen wurden mir die Gesichtsfeldausfälle ein über den anderen Tag immer bewusster.

Ich war ziemlich deprimiert, scheinbar schritt die Erblindung schnell voran, täglich weniger sehen zu können belastet ungemein. Deshalb empfand ich den Riesenwunsch von jetzt auf sofort zu erblinden als Schlusspunkt, um mich auf die neue Lebenssituation einstellen zu können, lernen, was blind alles möglich ist und einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man auch mit Restsehen in der Lage ist, blindenspezifische Techniken zu erlernen.

An einem besonders traurigen Tag telefonierte ich mit einem Marburger Bekannten, dieser erwähnte auf meine trüben Gedanken hin: „Du weißt doch sicher, dass wir hier in Marburg die blista haben.“ Nein, das wusste ich nicht. Er erbot sich, mir einen Kontakt zur blista zu machen.

Am nächsten Tag hatte ich ein ausführliches Telefonat mit Frau Stelker von der blista; sie lud mich zu Orientierungstagen ein. Im September 2021 habe ich mit einer Freundin dieses Angebot genutzt und war begeistert, welche Möglichkeiten sich hier für mich auftaten.

Während der Orientierungstage lernte nicht nur ich die blista kennen, sondern vielmehr wurde mein spezieller Förderungsbedarf ermittelt. Dazu saß ich jeweils eine Stunde mit den Lehrkräften der unterschiedlichen Unterrichtskategorien zusammen. Sie befragten mich zu meinen Lebensumständen und gaben mir kleine Aufgaben, mittels derer sie zum Beispiel die Empfindsamkeit meiner Finger oder meinen Umgang mit dem Langstock und meine Pendeltechnik erfassten.

Hier fühlte ich mich verstanden und vor allem: Gleiche unter Gleichen, die Rehabilitand* innen waren alle in irgendeiner Form von massiver Sehbeeinträchtigung oder sogar Blindheit betroffen. Ich sah eine große Chance, mich bei der blista für meine unbestimmte Zukunft wappnen zu können.

Zu Hause angekommen, setzte ich alle Hebel in Bewegung, um eine Bewilligung für die blindentechnische Grundrehabilitation (BtG) zu erlangen, doch so einfach wie gedacht war es dann doch nicht. Dadurch, dass ich in keinem Arbeitsverhältnis stehe, waren weder Arbeitsagentur noch Rentenversicherung für mich zuständig und die LVR lehnte ab, weil mein Erspartes oberhalb des Freibetrages lag.

Es folgten viele Telefonate mit Frau Stelker, denn mein Wunsch war ungebrochen, ich wollte unbedingt die BtG machen, dann eben als Selbstzahlerin. Endlich kam der erlösende Anruf: ab Oktober 2022 wäre ein BtG-Platz für mich reserviert. Mit 55 wollte ich also noch mal die Schulbank drücken, um fürs reale Leben zu lernen, meine Mitschüler*innen waren zwischen 14 und 60 Jahre alt.

Da bei der blista für alle Rehabilitand*innen ein spezielles Schulungsprogramm zusammengestellt wird, gibt es keine festen Klassen, sondern sehr viel Einzelunterricht oder man lernt in Kleingruppen. Rehabilitationsbeginn ist fortlaufend über das ganze Jahr verteilt, so gibt es stetig Zu- und Abgänge, es sind also immer „alte BtG-Hasen“ da, welche die Neulinge in ihre Obhut nehmen. Zeitgleich mit mir begannen drei Jugendliche. Mit ihnen zusammen bekam ich die ersten Lektionen in Punktschrift bei Frau Brawata. In kleinen Portionen bekamen wir zuerst das Alphabet in Brailleschrift zu erfühlen, dann wurden die wirren Punkte zu kurzen Sätzen; damit wurde es leichter, die Buchstaben zu unterscheiden. Schließlich konnten wir kleine Geschichten lesen. Gleichzeitig haben wir gelernt, mit der Braille-Schreibmaschine selbst zu schreiben.

Nach drei Monaten gab es eine neue Gruppenzusammensetzung und ich lernte von da an mit BtGler*innen, welche schon länger bei der blista waren. Die Unterrichtseinheit Bewegungsförderung bei Frau Michael und Herrn Jungmann war eine Gruppenaktivität: einmal in der Woche Mannschaftssport. Hier lernten wir, dass Hilfeannehmen nichts Verwerfliches ist; ein wertvoller Aspekt im eigenen Umgang mit unserer Sehbeeinträchtigung. Am zweiten wöchentlichen Sporttag stand Kraftsport bzw. Schwimmen zur Auswahl.

Den blinden Umgang mit dem PC lernte ich im Einzelunterricht. Herr Walbrecht hatte die schwere Aufgabe, mich von meinem jahrelang gepflegten Ein-Finger- Such-System abzubringen. Direkt in der ersten Unterrichtsstunde zog ich mir eine Augenmaske auf, um „versehentliches auf die Tastatur schauen“ von vornherein auszuschließen.

„Ok? Und wie bitte soll ich mich nun auf der Tastatur zurechtfinden?“ Diese sollte ich erkunden, taktile Markierungen waren spürbar, mittels dieser sind die wichtigsten Tasten markiert. Als der PC gestartet wurde, machte sich Jaws im Hintergrund bemerkbar. Jaws ist eine Software, die blinden und sehbehinderten Menschen hilft, mit dem Computer zu arbeiten.

Die Finger werden in Grundstellung gebracht und aus dieser heraus lernte ich die ersten Fingerwege. Nach wenigen Stunden konnte ich tatsächlich blind schreiben! Herr Walbrecht brachte mir mittels der Funktionstasten und Tastenkürzeln bei, Texte auf Fehler zu untersuchen, welche durch Jaws vorgelesen werden, zu speichern oder anderweitig zu bearbeiten.

Natürlich ist Schreiben nicht das Einzige, was man am Computer erlernen sollte. Sehende können schon vom Überangebot des Internets überfordert sein, Sehbeeinträchtigte und blinde hingegen haben mit Jaws eine wertvolle Hilfe. Um diese gut nutzen zu können, haben Herr Walbrecht und Herr Marte uns sehr gründlich in Internetnutzung unterrichtet. 

Herr Willumeit war mein Lehrer für LPF (Lebenspraktische Fähigkeiten) und O&M (Orientierung und Mobilität). Da jede*r Rehabilitand*in andere Bedürfnisse im täglichen Leben hat, hat Herr Willumeit während der ersten Stunde meine Wünsche für den LPF-Unterricht erfragt. Arbeiten im Haushalt und Büro war mir unendlich wichtig, Herr Willumeit stellte mir in Aussicht, dass ich im Laufe meines Unterrichtes nicht nur blind meinen Haushalt zu bewältigen lernen würde, sondern auch Esstechniken erlernen würde, damit ich keine Angst haben müsste, in Gesellschaft fremder Menschen Mahlzeiten einzunehmen.

Also war meine erste Aktion, die Schulküche zu erkunden, damit ich mich dort blind zurechtfinden konnte. Während meiner LPF-Stunden habe ich unter der Augenmaske gekocht, gebacken und sogar Pralinen gemacht.
Auch habe ich im Verlauf der Wochen nicht sehend Wäschepflege und Reinigungstechniken erlernt. Mehrere speziell aufbereitete Gesellschaftsspiele und weitere Hilfsmittel für den Haushalt durfte ich erfühlen, erhältlich sind sie bei verschiedenen Hilfsmittelanbietern.

Im O&M-Unterricht ging es natürlich auch um die richtige Pendeltechnik, doch viel wichtiger und intensiver wurde die sichere Teilnahme am Straßenverkehr und das Zurechtfinden auf Bahnhöfen erarbeitet. Ich habe sehr viel über die richtige Interpretation der Rillen und Noppen des Leitsystems gelernt, denn diese zwei gut fühlbaren Bodenindikatoren werden in unterschiedlicher Anordnung verlegt, um Langstockläufer*innen auf die verschiedenen Situationen, sei es Laufrichtung, Abzweigung oder Gefahr aufmerksam zu machen.

Psychologische Betreuung ist in zwei verschiedenen Maßnahmen in den Schulungsplan integriert. Zum einen das wöchentliche Einzelgespräch mit der Psychologin Frau Schlee, welches mir unheimlich viel gebracht hat. Zum anderen das psychologische Gruppenangebot; dieses stand jeweils für vier bis sechs Wochen unter einem bestimmten Motto: zB. Waldbaden, Genuss, Achtsamkeit und Gesprächsführung bei kritischen Situationen.
Nicht zuletzt sollte ich unsere Entspannungsstunde, die einmal wöchentlich stattfand, nicht vergessen: Leben mit Sehbeeinträchtigung ist ein großer Stressfaktor und deshalb müssen wir bewusst kurze Entspannungssequenzen in unseren Alltag einbauen.

Ein halbes Jahr habe ich in Marburg bei der blista verbracht und mir wertvolles Rüstzeug für die eventuelle vollständige Erblindung angeeignet. Natürlich war es eine lange Zeit fernab der Heimat, doch jeder einzelne Tag war ein unermesslicher Zugewinn für meinen Alltag und mein Selbstbewusstsein.

Rückblickend erinnere ich mich in großer Dankbarkeit an diese sehr intensive Zeit bei der blista, die für eine positive Entwicklung meines zukünftigen Lebens entscheidend beiträgt.