Reiten als Pflichtfach für Blinde und Sehbehinderte
Auszug aus einem Artikel von Elke Stamm aus der Zeitschrift „Stallgeflüster“
… das ist für viele Einrichtungen ein Traum, der sich nicht verwirklichen lässt. An der Carl-Strehl-Schule in Marburg dagegen ist Reiten sogar ein Pflichtfach für die Klassen fünf und sechs.
… „Ziel (der blista) ist es, Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung die bestmöglichen Chancen zu eröffnen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entdecken, Erfolge zu erleben, soziale Einbindung zu erfahren und sich lebenslang weiterzuentwickeln. Unser Leitspruch lautet: „Lass Dich nicht behindern!“ Getreu diesem Motto arbeitet die Schule in Kooperation mit der Universität auch an der Bewegungserziehung.
„Unser Gleichgewicht basiert u. a. auf der visuellen Wahrnehmung von Raum – ein Eindruck, der Blinden oder stark Sehbehinderten nicht möglich ist. Darüber hinaus fehlen den Kindern oft Bewegungserfahrungen, wie sie beispielsweise von nichtbehinderten Kindern beim Fahrrad- oder Rollerfahren und auf dem Spielplatz erlernt werden. Es bedarf erweiterter Zugänge, um die motorische Entwicklung von Kindern und Heranwachsenden mit Beeinträchtigungen optimal zu fördern und so mitunter problematischen Bewegungsmustern vorzubeugen“, erzählt uns Daniel Balzer bei unserem Besuch in der 1986 erbauten Reitanlage der blista. Er arbeitet seit vier Jahren als Lehrer für Deutsch und Wirtschaft in der Sekundarstufe II an der Carl-Strehle-Schule und hat im vergangenen Jahr einen zusätzlichen Masterstudiengang für Blinden- und Sehbehinderten-Pädagogik absolviert.
Balzers privates Hobby, das Reiten (im vergangenen Jahr: Kreismeister Waldeck-Frankenberg), war an der Schule bekannt und so übertrug man ihm die Koordination der kleinen aber feinen Reitanlage, die sich gut versteckt im Industriegebiet von Wehrda befindet. Eine Longier-Halle, eine Reithalle, ein Außenplatz und helle, freundliche Seminarräume gehören ebenso dazu wie der Stall mit elf Paddock-Boxen. Bei unserer Ankunft haben die sieben ‚blista-Pferde’ gerade Freilauf in der kleinen Longier-Halle. Da stehen bzw. laufen ein Knabstrupper, ein Freiberger, ein Haflinger, ein Tinker-Mix und ein Fjordpferd friedlich miteinander herum. Aber auch ein ehemaliges Dressurpferd gehört mit dazu. „Diese bunte Mischung von Pferden ermöglicht uns ein breites Ausbildungsspektrum“, erklärt Daniel Balzer. „Die besonderen Bedürfnisse erfordern spezifische Rahmenbedingungen, so dass auch im Rahmen der sportlichen Freizeitgestaltung eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht wird.“
Da ist zunächst einmal der Stall. Damit sich die Schüler orientieren können, befinden sich alle Boxen-Türen auf der gleichen Seite – die Namensschilder der Pferde sind entweder zusätzlich in Brailleschrift beschrieben oder in Prägebuchstaben bedruckt.
Die Boxentüren haben einen speziellen Verschluss, der auch ohne Tasten nach einem Riegel einfach zu öffnen ist. Gegenüber den Boxen befinden sich die Putzplätze. „Auch hier wird nichts verändert. Alles bleibt so, wie es jetzt gerade ist“, erklärt uns Judith Weninger, die als Ergotherapeutin den praktischen Teil des Reitunterrichts übernimmt. Sogar die Putzkästen in der aufgeräumten Sattelkammer tragen auch für blinde lesbare Beschriftungen.
So viel zum Umfeld. Doch nun zur Praxis. „Sehende Kinder schauen sich Kompetenzen, wie Halftern, Putzen, Anbinden etc. einfach von anderen ab. Für unsere Schüler zerlegen wir die einzelnen Abläufe in viele kleine Schritte, die sie sich merken können. Dazu gehört auch, das Pferd abzutasten und zu erfühlen – ebenso das Zubehör. Ein Blinder kann beispielsweise nicht sehen, wie lang ein Zügel oder Anbindestrick ist – er muss es zunächst erfühlen und dann wissen, wo genau der Zügel beim Trensen zu liegen hat. Alleine für Erläutern des Trensens sind mehr als 60 Teilschritte notwendig“, berichten Weninger und Balzer. Neben der Blindenschrift zum Beispiel auf den Putzkästen (es gibt sie übrigens für verschiedene Sprachen ebenso wie für unterschiedliche Fachbereiche z. B. Mathematik oder Musik) kommen für die Reit-Anfänger noch weitere taktile Medien zum Einsatz.
Da gibt es beispielsweise eine Matrize, die es ermöglicht die komplette Reitanlage mit dem Finger zu erfühlen und zu erkunden. „Das hilft bei der Orientierung“, erklärt uns Daniel Balzer. Auch für das Erlernen der Hufschlagfiguren wurden bei der blista solche Matrizen in einer eigens dafür zuständigen Abteilung per Hand angefertigt.
Neben den taktilen Hilfsmitteln kommen auch akustische zum Einsatz. So unterstützen beispielsweise die studentischen Hilfskräfte, die auch im Stall mithelfen, wenn es notwendig ist, als ‚lebende Pilonen’ die sehbehinderten Reiter bei der Orientierung in der Halle. Darüber hinaus ist die Reithalle mit Richtmikrofonen in der Bande ausgestattet, die ebenfalls bei Bedarf zum Einsatz kommen können.
„Die Arbeit mit dem Pferd stärkt das Selbstbewusstsein unserer Schüler, die Erfahrung von Bewegung, das ‚sich Einlassen’ auf die Bewegungen des Pferdes, und die direkte Reaktion des Tieres auf bestimmte Einwirkungen ermöglicht den Schülern oft auch eine bessere Selbsteinschätzung in Bezug auf das Bewusstsein ‚was kann ich leisten’“, erklären Weninger und Balzer. Immerhin ermöglicht die blista ihren Schülern seit 2014 auch die Möglichkeit, Reit-Abzeichen zu erwerben. Im Rahmen des Reitens im Schulsport, will die blista, unterstützt vom Verband, künftig noch weitere Veranstaltungen entwickeln. Und, wer nach den ersten beiden Pflichtjahren auch weiterhin reiten möchte, kann dies in Arbeitsgemeinschaften.
Neben den Schülern der Carl-Strehl-Schule stellt die blista ihre Anlage und Pferde auch anderen sozialen Einrichtungen zur Verfügung. In spielerischen Reitstunden entwickeln behinderte Kinder gemeinsam mit nicht behinderten soziale Kompetenzen. In diesen inklusiven Gruppen herrscht „ein sehr intensives Geben und Nehmen. Und oft merken die Schüler dabei, dass auf dem Pferd Behinderte und Nicht-Behinderte die gleichen Chancen haben, denn auf dem Pferd hat schließlich jeder vier Beine.“
[Fotos: Bruno Axhausen]